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Was ist dies runde turmartige Gebäude ursprünglich gewesen? Ein Wasserturm? Ein Teil der Gummifabrik? Tatsächlich war es ein Luftschutzbunker, einer der ersten, die in Hamburg gebaut wurden. Die Form sollte das Gefühl von Sicherheit und Geborgen heit vermitteln. Im verwüsteten und brennenden Barmbek Ende Juli 1943 konnte jedoch auch kein ‚trutziger’ Turmbunker die Siegeszuversicht der Nationalsozialisten stärken.
Mit Kriegsbeginn 1939 wurde der Luftschutz in Hamburg planmäßig ausgebaut. Für rund 22% der in Hamburg lebenden Bewohner standen Schutzraumplätze zur Verfügung, in Barmbek-Uhlenhorst für etwa 15%. Hier waren ca. 270 Schutzbauten (Röhrenbunker, Rundbunker, Kasematten, Torwege), 4 Hochbunker, 1 Turmbunker und ca. 125 ausgebaute Keller als Schutzraum für die Bevölkerung registriert. Zu den ersten öffentlichen Luftschutzbauten gehörten die Turmbunker, die an Hauptverkehrspunkten, in der Nähe von Bahnhöfen errichtet wurden. Zu dieser Reihe von insgesamt 12 Rundbunkern vom Typ „Zombeck“ gehörte das turmartige Gebäude an der Ecke Wiesendamm/Poppenhusenstr., das unmittelbar nach Kriegsbeginn in Hamburg gebaut worden war.
Die Aufenthaltsfläche des Turmbunkers war als Spirale konzipiert. Die Schutzsuchenden gelangten auf einer schiefen Ebene nach oben. Das Kegeldach aus Beton sollte Direkttreffer abweisen. Das offizielle Fassungsvermögen war auf 600 Personen festgesetzt. In der Praxis fand aber die dreifache Zahl in dem Turm Schutz. Der Rundbunker war durch Klinker verkleidet, das Dach mit Pfanne. Das von den Nationalsozialisten häufig verwendete Hochheitszeichen des Adlers hängt noch heute – ohne Hakenkreuz – über dem Eingang des in den letzten Jahren gewerblich genutzten Bunkers.
Es war ein Traum
1988 entwickelte die Geschichtswerkstatt Barmbek die Idee, im Turmbunker ein Heimatmuseum für Barmbek einzurichten, ergänzt mit einem Anbau für Arbeitsräume und Archiv der Werkstatt. Pläne dafür waren bereits detailliert ausgearbeitet. Aufgrund der Kürzung der institutionellen Förderung der Geschichtswerkstätten im Jahre 2003 und mangels alternativer Finanzierungsmöglichkeiten musste die Idee vorläufig aufgegeben werden.
Zehn Tage im Juli
Die Luftangriffe der englischen und amerikanischen Bomberverbände legten im Zweiten Weltkrieg große Teile der Stadt Hamburg in Schutt und Asche. Die Angriffe sollten die Hamburger Rüstungsindustrie vernichten und die Bevölkerung kriegsmüde machen. Die Zerstörung Hamburgs sollte zugleich eine Antwort auf den Angriffskrieg der Nationalsozialisten sein, die bei ihren Bombenangriffen auf London, Warschau, Coventry und Rotterdam ebenfalls keine Rücksicht auf die dortige Zivilbevölkerung genommen hatten.
Der Stadtteil Barmbek als Arbeiterwohnquartier und Standort wichtiger Versorgungs- und Industriebetriebe wurde bei den Angriffen besonders schwer getroffen. Mehr als 70% aller Gebäude waren völlig vernichtet, 15% waren stark beschädigt, nur 5% blieben erhalten. Von den ehemals 232.00 Bewohnern waren im August 1943 nur noch rund 15.000 zurückgeblieben. Ca. 1.000 bis 1.500 Menschen kamen bei den Angriffen in Barmbek ums Leben. Ein Großteil war bereits vor den Großangriffen aus Barmbek geflohen.
Barmbek wird evakuiert – Mittwoch, 28.7.1943 – Zitat von Bürgermeister Krogmann
Kreisleiter Fromm gibt Befehl, alle Menschen des Kreises 6 haben den Stadtteil bis 6 Uhr abends zu räumen. Große Aufregung. Dienststellen ohne meinen Befehl geschlossen. Die Bevölkerung verlässt fluchtartig die Stadt. Eine geregelte Verwaltung unmöglich, da ein großer Teil der Beamten mit ihren Familien Hamburg verlassen hat.
Im Dunkeln – Zitat von Herbert Eisenhauer
Den großen Angriff am 30. Juli 1943 habe ich mit meinen Eltern und Geschwistern im Luftschutzkeller am Barmbeker Bahnhof erlebt, den meine Mutter am sichersten fand, weil darüber nur die Gleise waren. Es gab ja auch noch diesen Rundbunker, mit dem Turm, in den meine Mutter nicht rein wollte. Sie sagte: „Wenn es da einen Volltreffer gibt, sind wir alle weg.“ Als es abends Alarm gab, sind wir wieder rüber. Wir haben auf Bänken gesessen, die in verschiedenen Räumen standen. Irgendwann fiel das Licht aus. Wir saßen im Dunkeln. Die Eisentore, die den Treppeneingang abschließen sollten, ließen sich nicht mehr schließen. Das war schlimm, denn so hörten wir um uns herum diese fürchterlichen Bomben detonieren. Die Leute schrien und beteten im Dunkeln zusammen, bis es zu Ende war. Im Nebenkeller wurde in dieser Nacht auch noch ein Kind geboren.
Richtung Turm – Zitat von Heiner Wiewald
Von Haus zu Haus fraß sich das Feuer weiter. Vor der Brücke Fuhlsbüttler Straße teilten sich die glitzernden Schienen in Weichen und Zusammenführungen. Max stieg eine Treppe empor auf den menschenleeren Bahnsteig: Durchgang verboten. Von hier war der Blick frei über die Fuhlsbüttler, über den Kinderspielplatz in die wehenden Flammen der Schwalbenstraße. Fast nicht wahrnehmbar zwischen all der Mächtigkeit der Gewalt, schleppten Hastende ihre Habe unter die Brücken. Und wie prächtig: In ganz besonderen Farben auf der anderen Seite die brünstigen Feuer aus den alten Gebäuden der „New-York Hamburger“. Unberührt in diesem Chaos allein der Turm! Der runde Turm vorm Barmbeker Bahnhof. Um ihn herum häuften sich Möbelberge und aufgeschichtete Bündel. Auf einer der Wartebänke des Bahnhofs ließ Max sich erschöpft fallen.
Alles vernichtet – Zitat von Lisa Witt
Unsere Schicksalsstunde schlug in der Nacht vom 29. auf den 30. Juli 1943. Wenn wir auch gewöhnlich im Luftschutzkeller unseres Hauses in der Hufnerstraße Zuflucht fanden, so schien es nach den letzten schweren Angriffen auf Barmbek nicht sicher genug, und mein Vater und ich eilten, als Alarm ertönte, nach dem Rundbunker am Barmbeker Bahnhof, in den von allen Seiten die Leute mit ihrem Luftschutzgepäck strömten. In einem Raum dieses Bunkers half eine Rote-Kreuz-Abteilung den Verletzten. Stundenlang verlebten wir in Angst und Sorge. Als endlich das Entwarnungszeichen gegeben wurde, eilten wir hinaus ins Freie. Doch o Schrecken – lichterloh brannte alles ringsumher – die ganze Hufnerstraße, auch unser Haus. Entmutigt und hoffnungslos sahen wir, dass alles vernichtet war. Wohin?
Ulla – Liebe 1943 – Zitat von Heiner Wiewald
Ein Hau-Ruck-Kommando hatte für die Leute vom Roten Kreuz vor dem Barmbeker Bahnhof eine Baracke aufgestellt. Morgens begonnen, konnten sie nachmittags schon ans Einrichten gehen. Ein Herd zum Kochen musste her und ein schöner Bullerofen. Alles fand sich in den Ruinen der umliegenden Häuser. Für zwei große Räume mussten Möbel beschafft werden. Zweistöckige Betten, Schränke, Stühle. Neben dem Windfang das Sanitätszimmer mit einfachen medizinischen Geräten. Der größere Raum wurde als Schlafraum eingerichtet, im anderen gekocht, gegessen, gewohnt. Links die Männer, auf der anderen Seite des Raumes die Frauen. Das Trinkwasser wurde von den jungen Männern aus dem Luftschutzturm drüben mit Eimern herangetragen. Ulla war wegen einer Erkältung tagsüber im Bett geblieben und Max, der nur mal schnell reinguckte, erkundigte sich nach ihrem Befinden. Allerdings setzte er sich dabei auf Ullas Bettkante. Sie waren allein, es war Sommer – es musste wohl so kommen. Eine Woge überspülte Max. Er versuchte sogar, diesem unbekannten Gefühl zu entfliehen. Zu warm, zu weich jedoch dieser Mund, zu verlangend beider Neugier.
Heimaturlaub – Zitat von Walter Driesch
Was ist mit Barmbek? – „Nur noch ein Schutthaufen.“ Auf der Herfahrt hatte mir einer erzählt, dass der Turmbunker beim Barmbeker Bahnhof heil geblieben wäre. Mit Sorge um die Eltern, mit Hunger, Durst und Wut im Bauch, machte ich mich auf den Weg. Als ich dann Wiesendamm einbog, hörte ich Stimmen vom Bunker und sah ein kleines Orientierungslicht. Na endlich Menschen. Da war dann auch eine Rotkreuzschwester. Endlich was Trinkbares, Schnitte Brot und drei Zigaretten. Legte mich so wie ich war auf so ein Feldbett. Wie heißt es so schön? Wir sind noch einmal davongekommen. Aber bitte, hoffentlich nie wieder Krieg!
Zwei Kirchen stehen beim Schleidenpark
Die 1900 geweihte katholische Sophienkirche, die auch ohne ihren im Krieg zerstörten Turmhelm nicht verstümmelt wirkt. Und die Bugenhagenkirche, im Baujahr ein Wahrzeichen der Backsteinmoderne. „Ein feste Burg“ sollte sie sein (so der Name des Entwurfs), die sich augenscheinlich und sinnbildlich behauptete, sowohl gegen Sabkt Sophien als auch gegen die Hochburg der Arbeiterbewegung, den Pro-Block.
Sankt Sophien
An der Südseite des Biedermannplatzes — an der Ecke Elsastraße / Weidestraße — steht die katholische Sophienkirche. Sie wurde zusammen mit einer katholischen Schule in den Jahren 1899/1900 gebaut. Der Architekt Heinrich Beumer hatte sie als dreischiffige Hallenkirche in neugotischem Stil entworfen, nach dem Vorbild der Kirche in Saerbek bei Münster. Mit der Backsteinverkleidung wurde sie den Hamburger Kirchen angeglichen. Der Turmhelm, auf den beim Wiederaufbau 1949-51 verzichtet wurde, erreichte eine Höhe von 60 Metern.
Unter Barmbeker Katholiken war schon um 1890 der Gedanke aufgekommen, Barmbek brauche eine eigene katholische Kirche. Der Weg zur Marienkirche in St. Georg wurde als allzu weit empfunden. Der 1892 gegründete „Verein der Geselligkeit von Barmbek und Umgebung“ trat eifrig für das Vorhaben ein. Eine erste Sammlung erbrachte 3,18 Mark. Das war eine klägliche Summe, und es hätte wohl noch viel Zeit bis zur Erreichung des Zieles vergehen müssen, wenn sich nicht im Ehepaar Sophie und Wilhelm Riedemann Stifter gefunden hätten, die den Bau samt Inventar finanzierten. Wilhelm Riedemann war einer der Gründer der Deutsch-Amerikanischen Petroleumgesellschaft (heute ESSO). — Um die Stifterin zu ehren, wurde die Kirche der heiligen Sophie geweiht. Sankt Sophien war der erste große Kirchenbau Barmbeks; die kleine katholische Gemeinde war den Protestanten zuvorgekommen.
In den 20er Jahren hatte die Gemeinde etwa 10.000 Mitglieder. An Sonntagen sollen zwischen 1.600 und 2.200 Menschen die Kirche besucht haben. (Das heißt in mehreren Gottesdiensten, denn an Sitzplätzen waren nur 650 vorhanden.) Ein solches Zahlenverhältnis – ca. 2.000 zu 10.000 – lag für die protestantischen Kirchen Barmbeks gar nicht im Bereich des Vorstellbaren. Es zeugt von einer Verbundenheit, wie sie häufig religiöse Minderheiten auszeichnet.
Hinter der St.-Sophien-Kirche wurde 1964-66 für den Konvent der 1962 nach Hamburg gerufenen Dominikaner das Kloster St. Johannis errichtet, das auch Gemeinderäume für St. Sophien enthielt. Das Gemeindegebiet wird heute im Norden vom Goldbekkanal, im Süden vom Eilbekkanal begrenzt, reicht im Westen bis an die Alster und schließt im Osten das Krankenhaus Eilbek ein.
Die Entstehung der Bugenhagenkirche
Etwa an derselben Stelle, wo heute die Bugenhagenkirche steht, an der Westseite des Platzes, wurden schon 1907/8 ein Pastorat und ein Gemeindesaal gebaut. Nur fünf Jahre nach der Heiligengeistkirche also: Mühsam versuchte die evangelische Kirche mit dem rasanten Bevölkerungswachstum in Barmbek Schritt zu halten. Weltkrieg und Inflation trugen dazu bei, dass die seit 1919 bestehende Gemeinde Westbarmbek erst Mitte der 20er Jahre darangehen konnte, den Bau ihrer Kirche zu planen. Ein Wettbewerb mit vier Teilnehmern wurde veranstaltet. Ausgewählt wurde der Entwurf von Emil Heynen. Heynen hatte die Uhlenhorster Heilandskirche gebaut, sich aber unter den Hamburger Architekten der Zeit keinen wirklich großen Namen gemacht. Heynen wandelte seinen Entwurf während der Planungszeit und noch in der Bauphase mehrfach ab. Dadurch erst wurden die Klarheit und Strenge der Gestaltung erreicht, die die Kirche auszeichnen. Bei der Grundsteinlegung 1927 wurde die Kirche im Hinblick auf das 400jahrige Hamburger Reformationsjubiläum 1929 nach dem Hamburger Reformator Bugenhagen benannt
Heute ein Baudenkmal
Als erste in Hamburg wurde die Bugenhagenkirche aus armiertem Beton und in der Formgebung des „Neuen Bauens‘ errichtet. Erstmals auch wurde der Andachtsraum über den Gemeindesaal gebaut: eine Anordnung, die als großstadtgemäß galt, weil sie Grundstücksfläche sparte und die „Anwesenheit“ der Kirche im Stadtbild betonte. Die Wettbewerbsbedingungen hatten einige Merkmale des Gebäudes vorweggenommen. Deutlich drückt sich in ihnen der Wunsch aus, der Sophienkirche ein — in wörtlichem und übertragenem Sinne — herausragendes Bauwerk gegenüberzustellen. Tatsächlich ist die Bugenhagenkirche noch jetzt, selbst vor der unförmigen Kulisse der sogenannten Alster-City, die städtebauliche Dominante des Platzes.
Ein Kulturzentrum im „Missionsgebiet“
In der Bugenhagenkirche wurden auf ungewöhnliche Weise Räume für verschiedene Nutzungen zusammengefasst. In den Turmgeschossen z.B. wurden Räume für Jugendgruppen eingerichtet. So bildete die Bugenhagenkirche eine Art Kulturzentrum — wie auf ihre Art auch die Sophienkirche und der Pro-Block Ecke Lohkoppelstraße. Während sich der Wettstreit mit der Sophienkirche wohl eher aufs Erscheinungsbild, aufs Repräsentative, beschränkte, war das Kulturzentrum der Arbeiterbewegung ein Konkurrent um die Herzen und Hirne. In Barmbek mit seinen vielen zuziehenden Menschen, die oft eine unkirchliche Einstellung mitbrachten, fühlte sich die protestantische Kirche vor dem Ersten Weltkrieg gleichsam im Missionsgebiet. Nehmen wir zum Beispiel die Jugendarbeit. Im Pro-Block fand der SPD-nahe Jugendbund kurz nach 1906 seine erste Heimstatt. Pastor Bohme von der Heiligengeistkirche begann schon Anfang des Jahrhunderts seinen Jugendbund um sich zu scharen. Nach Bohmes Pensionierung wanderte der Jugendbund zur Bugenhagengemeinde zu Pastor Manshardt ab. Manshardt war – eine Rarität unter Hamburgs Pastoren – SPD-Mitglied, seiner Haltung nach christlicher Sozialist. Vielleicht war er gerade deshalb besser als die meisten seiner Kollegen befähigt, in der Konkurrenz mit der „Arbeiterkultur“ zu bestehen.
Als dieser Park 1903/04 (10 Jahre vor dem Stadtpark) angelegt wurde, war er noch von offenem Gelände umgeben. Gleich danach begann die Bebauung, auch die Mitte Barmbeks wurde von der Verstädterung erfasst. Um so wichtiger der Park: es war der erste öffentliche Park in einem Hamburger Arbeiterstadtteil.
Gestaltung
Wie der Plan zeigt, wurde der Platz mit zwei Teichen und einem großen, runden „Kindertummelplatz“ angelegt. Der Tummelplatz war grasbewachsen, die Teiche waren durch einen kleinen Wasserfall miteinander verbunden und boten Kindern die Möglichkeit zum Planschen. Bei schönem Wetter im Sommer war der Park bis in den Zweiten Weltkrieg stets gut besucht. Unterm Aspekt der Stadtentwicklung markiert der Schleidenpark den Wandel, den die Mitte Barmbeks um die Jahrhundertwende erfahren hat. Nur ein Stückchen entfernt floss noch bis 1900 der Osterbekbach zwischen Wiesen und Äckern. Hier fanden die Kinder noch ein „wildes“ Spielgelände vor, das als solches nicht angelegt war, aber vielleicht gerade deshalb um so mehr Reiz besaß. Dagegen war der neue Park ein kleines, von zwei Straßen eingegrenztes Arrangement von Wasser und Grün, eine Spiel- und Erholungsfläche vom Reißbrett sozusagen.
Namensgeber
Benannt wurde der Park nach dem Hamburger Botaniker Matthias Jacob Schleiden. Die Straßen an den Längsseiten des Parks hießen Schleidenplatz. 1947 erhielten sie den Namen des sozialdemokratischen Bürgerschafts- und Reichstagsabgeordneten Adolf Biedermann, der längere Zeit in der Nähe des Schleidenplatzes gewohnt hat. Biedermann, gelernter Schlosser, kam im Mai 1933 bei der Rückkehr aus dem Rheinland ums Leben. Viele vermuteten, dass er von nationalsozialistischen Totschlägern ermordet und dann aus dem Zug geworfen wurde. — Offiziell hat der Park heute überhaupt keinen Namen mehr. Für viele Barmbeker und auch in der Literatur heißt er weiterhin Schleidenpark.
Veränderungen
Der Schleidenpark wirkt heute nüchterner als auf manchen Fotos aus der frühen Zeit, die den Eindruck einer tändelnden Landschaftsinszenierung auf kleinstem Raum erwecken. Die Veränderung hat nicht erst nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen. Schon Fotos aus den 30er (oder 20er) Jahren zeigen anstelle des zweiten Teichs ein Planschbecken, ungefähr an derselben Stelle wie heute. Seit den 60er Jahren hat der immer mehr angewachsene Autoverkehr dem Schleidenpark viel an Erlebnis- und Erholungswert genommen.
Eine Erinnerung an die Frühzeit des Schleidenparks
Der Schleidenpark war eine herrliche Anlage mit riesigen uralten Bäumen, die nach dem Krieg (dem Zweiten Weltkrieg), der Not gehorchend, gefällt und verheizt wurden. Es gab dort zwei Kleine Teiche. Der eine war für die Kinder zum Waten freigegeben. Schuhe und Strümpfe wurden ins Gras gelegt, die Jungs krempelten die Hosen um, wir Mädchen rafften die Röcke, und hinein ging es ins erfrischende Nass. Hinterher lagerten wir auf dem Rasen und verzehrten den mitgenommenen Proviant. Es gab auch ein Wärterhaus mit einem alten Wäirter, der aufpasste, dass kein Papier hingeworfen wurde, und der den Streit zwischen den Kindern, der natürlich nicht ausblieb, schlichtete. (Trude Possehl, Schauspielerin)
Eine kritische Stimme aus dem Jahre 1909
Dieser Strand (an zwei Uferstellen des hinteren Teichs) hat dem Schleidenpark unter Hamburgs Anlagen bereits einen kleinen Ruf eingebracht. Hier sieht man fast zu allen Tageszeiten dichtgedrängt unsere „Lütgen“, wie sie voll innigen Behagens im flachen Wasser planschen oder im Sande buddeln. Der übrige „reinliche“ Teil des Parks ist so gut wie unbenutzt. Man könnte, angesichts dieses wahrhaft bescheidenen Beispiels, bitter werden beim Ausmalen der Freude sonder Maßen, die ein öffentlicher Park gewähren könnte, wenn er aus solchen oder ähnlichen Tummelstätten überhaupt nur bestände. (Leberecht Migge, Gartenarchitekt)
„Mit uns zieht die neue Zeit.“ Viele Sozialdemokraten – zumal die jüngeren – empfanden diese Liedzeile in den 20er Jahren als Ausdruck ihrer Zuversicht. Dieselbe Zuversicht erfüllte viele Bewohner des Pro-Blocks von Beginn (1906) an. Aus der Gemeinschaft schöpften sie Kraft. Sie waren eine Art proletarische Elite und machten ihren Block zu einer Experimentierwerkstatt der Hamburger Arbeiterbewegung.
Alle „Wohnungsinhaber“ waren natürlich Genossenschaftsmitglieder und standen der SPD zumindest nahe. Der Vorsitzende des SPD-Distrikts lud die Blockbewohner ins Ecklokal ein. „Er fragte: ‚Wer ist in der Partei?‘ und rief die ganzen Einwohner einzeln auf. Wer ‚nein’‘ sagte, wurde gefragt: ‚Wollen Sie nicht Mitglied werden?‘ Und da er nun schon einmal da war, sagte er ‚ja‘. In diesem Block gehörten hernach siebenundneunzig Prozent zur SPD.“ (Erzählte Schönfelder 1960.) Manche haben es später in Gemeinwirtschaft, Verwaltung, Politik zu Rang und Namen gebracht. So Adolph Schönfelder, „Barmbeker Jung“, 1907-26 Mieter im Block, 1926-33 Polizeisenator; 1946-60 Bürgerschaftspräsident.
Die Gemeinschaft und das Geflecht der Organisationen
Sicherlich war die Gemeinschaft von der Mehrzahl der Mieter gewollt. Widerstrebende oder Gleichgültige wurden von den führenden Köpfen wohl auch mehr oder weniger sanft gedrängt, sich in sie einzufügen.
Hauspflege
Die „Vereinigung für genossenschaftliche Hauspflege“ war nach Johannes Schult als Instrument der Gemeinschaftserziehung gegründet. Sie sollte zu pfleglichem Umgang mit Wohnung und Haus anhalten, die ja nun nicht mehr einem Kapitalisten, sondern den Genossenschaftern selber gehörten.
Mauses Lokal
Eine „Gemeinschaftseinrichtung“ des Pro-Blocks war in ganz Barmbek bekannt: Gustav Mauses Gastwirtschaft Ecke Lohkoppel-/Schleidenstraße. Sie war das sozialdemokratische Versammlungslokal im Stadtteil. Im Saal, der in den Hof hineingebaut war, fanden auch (im engeren Sinne) kulturelle Veranstaltungen statt. Von den Nazis terrorisiert, musste sich Mauses Sohn 1933 aus der Wirtschaft zurückziehen.
Elterngemeinschaft
Vor dem Ersten Weltkrieg kam im Pro-Block zu zwei Zusammenschlüssen, die im Hamburger Rahmen eine gewisse Bedeutung erlangten. Die erste sozialdemokratische Elterngemeinschaft strebte Mitsprache an der Doppelschule Lohkoppel-/Hinrichsenstrafie an. Mit geringem Erfolg. Dennoch fand sie bald Nachahmer im Umkreis vieler anderer Schulen und war eine Vorbereitung auf die nach dem Krieg gebildeten Elternräte. Der Ausschuss zur Förderung der Jugendspiele organisierte vielerlei sportliche und die Kreativität anregende Betätigungen und nahm sich besonders der Ferienerholung an. (Wer konnte damals schon verreisen?) Nach dem Krieg übernahm er die Ferienkolonie am Köhlbrand, 1923 ging er in den „Kinderfreunden“ auf.
Gemeinschaftsschulen
An der Gründung des „Ausschusses“ waren im Block wohnende Pädagogen maßgeblich beteiligt. So hatten die reformpädagogischen Bestrebungen hier gleichsam Wurzeln geschlagen, und es war nur folgerichtig, dass die Initiative von „Pro-Block-Eltern“ 1920 zur Einrichtung der Gemeinschaftsschule Tieloh-Süd führte. Die Anerkennung der drei anderen Hamburger Gemeinschaftsschulen wurde von Reformpädagogen (wie zum Beispiel William Lottig) durchgesetzt. An diesen Schulen wurde eine von Lehrplanfesseln befreite Pädagogik „vom Kinde aus“ praktiziert, wie sie heute an staatlichen Schulen schwerlich vorstellbar, aber von alternativen „freien“ Schulen vor allem in den siebziger Jahren (freilich nach anderen Vorbildern, wie zum Beispiel Summerhill) wiederaufgenommen worden ist. Die Bezeichnung der Schulen meinte eigentlich „Lebensgemeinschaftsschulen“, und damit ist etwas benannt, was wohl auch den Wegbahnern im Pro-Block vorschwebte: eine Lebensgemeinschaft zu schaffen, die für eine künftige andere Gesellschaft tauglich machen sollte, indem sie diese in Ansätzen vorwegnahm. (Ein Trainingsprogramm, wenn man so will.)
Jugendbund
In loserer Verbindung mit dem Pro-Block standen der Volkschor Barmbeck (heute Hamburger Oratorienchor) und der Jugendbund für Barmbeck, Uhlenhorst und Umgegend. Beide waren 1904/5 aus dem Fortbildungsverein für Barmbeck-Uhlenhorst (von 1881) hervorgegangen. Der Jugendbund bildete bald „Ableger“ in anderen Stadtteilen und wurde in Hamburg zu einer der wichtigsten organisatorischen Wurzeln der Arbeiterjugend, die sich nach dem Ersten Weltkrieg als S A J (Sozialistische Arbeiterjugend) formierte. Ehemalige Mitglieder des Jugendbunds übernahmen nun Aufgaben in der staatlichen Jugendpflege, Heinrich Eisenbarth wurde Senator und Leiter der Jugendbehörde. An der Lohkoppelstraße konnte der Jugendbund übrigens sein allererstes „Heim“ einrichten, an der östlichen Ecke des Blockeinschnitts.
Arbeiterbildung
Der Barmbek-Uhlenhorster Fortbildungsverein wendete sich in erster Linie an Arbeiter. Bildung zu vermitteln – in nichtschulisch zwangloser Form und grundsätzlich von parteilichem Standpunkt aus – war auch ein Hauptziel des Jugendbunds. Dass der Jugendbund keinen massenhaften Zulauf fand, sondern seine Mitgliedschaft doch eher eine Elite blieb, lag wohl gerade an dem, was andererseits seine Stärke ausmachte: er „nahm den ganzen Menschen in Anspruch“ (Schult). Gleiches gilt für die S A J.
Der Arbeiterbildung dienten auch die Echo Buchhandlungen, von denen es in Barmbek zeitweilig drei Stück gab: in der Diederichstraße (heute Beethovenstraße) 30, in der Fuhlsbüttler Straße 269 und in der Poppenhusenstraße 13. Diese Buchhandlungen, die den Namen des Hamburger Parteiblatts aufnahmen, waren Ende der 20er Jahre eingerichtete Filialen des „Auer“-Buchvertriebs, der der 1875 gegründeten sozialdemokratischen Druckerei „Auer & Co.“ angegliedert war. Neben der sozialistischen Literatur wurde auch anderer billiger und gehaltvoller Lesestoff angeboten. Ein Ansparsystem sollte den Erwerb von Büchern erleichtern.
Unterdrückung und Terror
Die Nationalsozialisten machten der sozialistisch gefärbten Arbeiterkultur ein Ende. Was nicht aufgelöst wurde, wurde übernommen und bestand nur dem Namen nach fort. Im welthistorischen Maßstab ist die „Arbeiterkultur“ kaum mehr als eine – vier Jahrzehnte währende – Episode. Und es war wohl nur eine zahlenmäßig kleine Elite, die sie wahrhaft trug und von ihr geprägt wurde.
Gleich ’33 erfolgten die ersten Verhaftungen. Für die Familien inhaftierter Genossen wurde gesammelt. Hier und dort zog ein Hitleranhänger ein, der eine oder andere Bewohner wechselte wohl auch die Fronten. Die Gemeinschaft der Blockbewohner, in die schon durch die Spaltung der Arbeiterbewegung ein Riff gekommen war, begann zu bröckeln. Dennoch wagten es 26,7 % bei der sogenannten Reichstagswahl 1936 im Stimmbezirk 377 (der zu mehr als der Hälfte aus dem Pro-Block bestand), gegen die Liste des „Führers“ zu stimmen. In den Augen der Machthaber ein unerhörtes Ergebnis. Die Wohlfahrtsstelle VI (Hufnerstraße) schrieb, zur Stellungnahme aufgefordert: „Das ganz außergewöhnlich schlechte Ergebnis von 26 % gegen den Führer wird mir allerdings verständlich, da gerade in diesen Bezirken die großen Produktionsblöcke wie Hinrichsenstr. 21-35, Ortrudstr. 37-39, Ortrudstr. 32 38 und Schleidenstr. liegen – die Einwohner dieser Häuserblöcke sind mehr oder weniger Menschen, die Jahre hindurch Mitglieder der SPD gewesen sind und die aus dieser, in ihnen offenbar fest verankerten Idee, unsere Weltanschauung ablehnen. — Wenn sie es auch nicht offen zur Schau tragen, so lässt aber die Reserviertheit, mit denen sie die Erfolge unserer Regierung beobachten, erkennen, dass sie den Anschluss noch nicht gefunden haben und auch offenbar gar nicht suchen.“
Willi Häusler
Als im Pro-Block aufgewachsener Mann des Widerstands ist Willi Häussler bekannt geworden. Er war Mitglied des Reichsbanners, jener 1924 gegründeten S P D nahen Organisation zur Verteidigung der Republik. Die Hamburger Reichsbannerabteilung 10 – eine von drei Barmbeker Abteilungen – traf sich im Pro-Block bei „Mause“. 1932 löste das Reichsbanner seine „Schutzformationen“‚ auf, um ein Verbot der ganzen Organisation abzuwenden. Nach Hitlers Machtübernahme begannen Mitglieder der Schufo 10 illegale Arbeit gegen das Regime. Willi Häussler wurde zum Leiter bestimmt. Die Aktionen mögen heute nicht gerade spektakulär erscheinen, doch sie brachten Willi Häussler nach langer Untersuchungshaft 1938 ins Zuchthaus. Als er die Strafe 1944 verbüßt hatte, kam er dennoch nicht frei. Zuletzt war er zwecks sogenannter Arbeitserziehung im Ausländerlager Wilhelmsburg, wo er Ende Mirz ’45 noch umgebracht wurde.
Eine andere „Neue Zeit“
Wenn auch eine ganze Reihe ehemaliger Bewohner 1950 in den PRO-Block wieder einzog, die früheren Gemeinschaftsaktivitäten lebten nicht wieder auf. Wieder wurde ein Mause Wirt hier im Ecklokal, aber der Saal wurde nicht wiederaufgebaut. Die „Arbeiterkultur“ war versunken. Die alte Hoffnung auf die „Neue Zeit“, in den frühen Nachkriegsjahren noch einmal erwacht, verlor in der Adenauer-Ära ihre Kraft. Die „Wirtschaftswunder“-Jahre waren gewiss auch eine „Neue Zeit“, von der ehdem erstrebten indes unterschied sie sich sehr. Die „Produktion“ fungierte seit dem Wiederausbau des Wohnblocks bis in die 80er Jahre nur noch als Hausverwalterin.
Der alte Block an Schleiden- und Lohkoppelstraße hebt sich deutlich aus der umgebenden Wohnbebauung heraus. Der „Konsum, Bau- und Sparverein Produktion“ baute ihn 1905/06 als einen der ersten Genossenschaftsblocks in Barmbek. Zur Brucknerstraße hin zeigt er die Form einer „Hamburger Burg“: Das Zurückweichen der Häuserfront ermöglicht ohne Hinterhäuser eine hochgradige Ausnutzung des Grundstücks.
Der Block enthielt 255 Wohnungen, wovon 201 Zwei-Zimmer-Wohnungen waren. Sieben Läden und eine Gastwirtschaft waren eingeplant. Das äußere Bild wurde durch die Verbindung von Putz und Backstein bestimmt, die vielleicht schmuck wirken sollte. Eine Besonderheit waren die – damals in Hamburg seltenen – Loggien (anstelle von Balkons). Die Mieten lagen zwischen 20,25 Mark monatlich für eine 40-qm Wohnung und 40,50 Mark für eine 80-qm-Wohnung. Bei einem durchschnittlichen Wochenlohn unter 30 Mark nicht extrem günstig! Geboten wurde eine nicht alltägliche Wohnungsqualität und eine angenehme Lage. Alle Wohnungen sollen mit einer Duschvorrichtung ausgestattet gewesen sein, die allerdings nur kaltes Wasser spendete. Vielleicht aus dem Grunde haben die meisten Mieter, wie erzählt wird, das Gelaß als Speisekammer oder Abstellraum benutzt.
„Hamburger Burgen“
Der Begriff „Burg“ war in Hamburg früher allgemein gebräuchlich. Im Fachjargon wurde diese Bauform auch „gekröpft“ genannt, weil der große Vorderhof einem nach innen gestülpten Kropf vergleichbar ist. Der Vorzug bestand darin, dass Bewohnerfreundlichkeit – dank Verlängerung der Vorderfront – mit hoher Rentabilität vereinigt wurde. Eingeführt wurde die „Burg“ in Hamburg wohl mit dem Häuserkomplex des Bau-Vereins am Stellinger Weg in Eimsbüttel (Entwürfe 1898/99). Die “Hamburger Burg‘ wurde vor dem Ersten Weltkrieg gewissermaßen zum Marken- und Gütezeichen baugenossenschaftlicher Reformbestrebungen. Auf dem Luftbild sind vier solche „“Burgen“ zu sehen. In den 20er Jahren wurde die „Burg“ durch relativ schmale Blockrandbebauung und Zeilenbau verdrängt. (Eine Ausnahme in Barmbek an der Starstraße.)
Die „Produktion“ und die Genossenschaftsbewegung
Die 1899 in Hamburg gegründete „Produktion“ schlug Wege ein, die im damaligen deutschen Genossenschaftswesen neu waren. Sie suchte von Anfang an Rückhalt bei den Gewerkschaften, sie wollte eine Arbeiterorganisation sein, und zwar eine mitgliederreiche. Sie trat mit dem auch theoretisch fundierten Anspruch auf, der Arbeiterschaft eine Möglichkeit zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen im konservativ-kapitalistischen Staat zu bieten. Viele führende Mitglieder der SPD – und manche der Gewerkschaften – lehnten ein solches Vorhaben als aussichtslos, wenn nicht schädlich, ab. Dies hinderte die „Produktion“ nicht an raschen Fortschritten, die in interessierten Kreisen in ganz Deutschland Beachtung fanden.
Im Unterschied zu anderen Konsumvereinen hatte es die „Produktion“ nicht darauf abgesehen, ihren Mitgliedern möglichst hohe Beträge rückzuvergüten, sondern war bestrebt, Kapital zu bilden, um weitere Einrichtungen zum Nutzen der Mitglieder schaffen zu können und ein Wirtschaftsfaktor zu werden, der die Verhältnisse in größerem Maßstab beeinflussen konnte. So wurden eigene Produktionsbetriebe aufgebaut, wie zum Beispiel eine Schlachterei und Fleischfabrik, vier Bäckereien, zwei Molkereien, eine Möbelfabrik und sogar eine Ziegelei. Bis 1933 waren die Methoden der „Produktion“ höchst erfolgreich, obschon mitunter anfechtbar.
Erst in den 80er Jahren erwiesen sie sich – allerdings unter veränderten Verhältnissen – als letztlich doch wohl untauglich. Angefeindet und geschrumpft, überdauerte die „Produktion“ die NS-Zeit bis 1941 (ab 1936 unter dem Namen „Niederelbische Verbrauchergenossenschaft“). 1941 wurde sie zusammen mit allen andern Konsumvereinen vom Reichswirtschaftsminister aufgelöst. Ihr Vermögen wurde zum größten Teil kassiert. Ihre Verteilungsstellen wurden zu Filialen des „Versorgungsrings Hamburg“, der der deutschen Arbeitsfront angegliedert war. Im Mai 1946 wurde die „Produktion“ wiedergegründet.
Bis zum Ersten Weltkrieg wurden in Hamburg insgesamt nur etwa 4.000 genossenschaftliche Wohnungen gebaut, zu wenig, um in der Wohnungswirtschaft der Stadt viel zu bewirken. In den 20er Jahren wurden neue Wohnungen in Hamburg fast 55% von gemeinnützigen Genossenschaften und Gesellschaften gebaut. Die „Produktion'“ überließ den Wohnungsbau weitgehend anderen. 1930 übernahm sie in Barmbek den großen Wohnblock zwischen Denner- und Fuhlsbüttler Straße (1926 gebaut) und nannte ihn „Von-Elm-Hof“‚. (Auf Adolph von Elm und Raphael Ernst May geht das Projekt der „PRO“-Gründung zurück.)
Die Erschließung der „Lohkoppeln“ und die Hamburger Wohnungspolitik
Bis zur Jahrhundertwende war das ganze Gelände zwischen Käthnerort und Spohrstraße fast unbebaut. Zum großen Teil deckte es sich mit dem alten Flurstück „Die Lohkoppeln“ (nach dem die Straße benannt ist). In den 1890er Jahren war mit der Ausarbeitung des ersten Bebauungsplans für Barmbek begonnen worden, der 1903 in Kraft trat. Er enthielt auch Vorgaben für das genannte Geländde. Ab 1902 wurden hier Straßen angelegt. 1904 begann die Bebauung. Sie unterschied sich vorteilhaft von der älteren Wohnbebauung im Süden Barmbeks, die teils wildwüchsig entstanden, meist außerordentlich dicht und in hygienischer Hinsicht vielfach kritikwürdig war. Der Süden war durch die Lässigkeit und Unentschlossenheit der Hamburger Wohnungs- und Baupolitik in den vorangegangenen Jahrzehnten geprägt. Auf das weitgehende „Laufenlassen“ in den 1870er und 80er Jahren folgten:
— das Baupolizeigesetz von 1893 (1. Fassung 1882),
— das Bebauungsplangesetz für die rechtselbischen Vororte 1892,
— das Wohnungspflegegesetz 1898,
— das Gesetz zur Förderung des Kleinwohnungsbaus 1902.
Die bessernden Regulierungen, die die Gesetzgebung bezweckte, waren größtenteils ungenügend, durch die Fraktion der Grundeigentümer abgeschwächt und wurden durch das Fördergesetz von 1902 in einigen Punkten sogar wieder zurückgenommen. Obendrein erschwerte der zeitweilig krasse Mangel an Kleinwohnungen die praktische Durchsetzung mancher Regulierungsmainahmen. Für das Gebiet zwischen Markt und Spohrstraße ließ der Barmbeker Bebauungsplan keine Wohnhöfe zu, d.h. keine Hinterbebauung in Hof- oder Terrassenform. Die Blocks waren relativ schmal geschnitten und die Innenhofe vergleichsweise licht, weil meist darauf verzichtet wurde, die Häuser tief in den Hof hineinzubauen. Die Anlegung des Schleidenparks tat ein übriges, um diesen Teil Barmbeks aufzuwerten.
Bombenschaden und Wiederaufbau
Ende Juli 1943 brannte der „PRO“-Block beim Schleidenpark aus. Die Umfassungsmauern blieben erhalten, in ihnen erstand der Block 1949/50 fast wieder in alter Gestalt. Die Dachpartie freilich ist wesentlich schmuckloser geworden. Der wiederaufgebaute Block gehörte der Pensionskasse der Konsumgenossenschaften. Die „Produktion“ hatte den Block in der NS-Zeit verkaufen müssen, um von Sparern zurückgeforderte Einlagen auszahlen zu können. Ende der 80er Jahre verkaufte die Pensionskasse. Seitdem verbindet den Eigentümer nichts mehr mit den Erbauern des Blocks.
Kolonialpolitische Verwicklungen
Emily Ruete stand in den 1880er Jahren der deutschen Kolonialpolitik zunächst wohlwollend gegenüber. „Von Anfang an habe ich zu dem kleinen Häuflein von Menschen gehört, welche mit warmenm Interesse die Kolonialbestrebungen Deutschlands verfolgte”. (Emily Ruete) Immer wieder versuchte Emily Ruete ihre Erbansprüche in Sansibar, die sie durch ihre Flucht und die Beziehung zu einem Andersgläubigen verloren hatte, geltend zu machen und hoffte dabei auf die Hilfe der britischen und deutschen Regierung, insbesondere auf die Unterstiüzung des Reichskanzlers Otto von Bismarck. Dieser versprach sich von ihrem Besuch auf Sansibar, die Kolonialinteressen Ostafrika wirksamer durchsetzen zu können. „Das Erscheinen der Dame wird sich in der einen oder anderen Weise in unserem Interesse verwerten lassen”. (Reichskanzler Otto von Bismarck) An Bord des deutschen Marinegeschwaders kehrte Emily Ruete 1885 erstmals wieder in ihre Heimat zurück, gemeinsam mit ihren Kindern. Ihr Bruder, der Sultan Bargasch, lehnte jedoch ab, sie zu empfangen, womit ihre Versöhnungsabsichten und die Klärung ihrer Erbansprüche erfolglos bleiben. Als Sultan Bargasch kurze Zeit später die Anerkennung der deutschen Eroberungen auf dem ostafrikanischen Festland akzeptierte, hatte Bismarck sein Ziel erreicht und ließ Emily Ruete fallen, die Sansibar wieder verlassen musste. „Für das Schicksal der Frau Ruete und ihre beaux yeux (schöne Augen) können wir die Reichsinteressen nicht einsetzen. Wir werden die für Deutschland zu erstrebende Freundschaft des Sultans nicht um seiner Schwester willen gefährden.“ (Reichskanzler Otto von Bismarck) Emily Ruete musste erkennen, dass sie zum Spielball und Opfer europäischer Kolonialpolitik geworden war und nirgendwo willkommen war.
lhre Bücher und Geschichte – weltweite Verbreitung
Emily Ruetes „Memoiren einer arabischen Prinzessin” gelten in der Literaturgeschichte als erste veröffentlichte Autobiographie einer arabischen Frau – eine Mischung aus lebensgeschichtlichen Erinnerungen und volkskundlichen Beobachtungen, mit vielen Details über das alltägliche Leben in Sansibar und Deutschland. Das Buch wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und erreichte weltweite Verbreitung. Mit ihren Memoiren wollte Emily Ruete der falschen Darstellung ihrer Geschichte in den Boulevardmedien entgegentreten. Dem damals vorherrschenden romantisierenden Afrikabild und den Vorurteilen gegenüber dem Islam setzte sie ein eigenes Bild über die muslimische Welt entgegen, um so Verständnis für die Menschen und Sitten ihrer Heimat zu wecken. Ihre Lebens- und Liebesgeschichte fand Eingang in Märchenromanen zeitgenössischer Illustrierter, wurde in späterer Zeit bis heute auch Gegenstand von zahlreichen Romanen, Filmen, Musik- und Theaterstücken sowie wissenschaftlichen Publikationen. Spätere Schriften wie „Syrische Sitten und Bräuche” und „Briefe nach der Heimat” fanden weniger und spiä Beachtung und Verbreitung. Ihre „Briefe” sind eine Art fiktives, persönliches Tagebuch, aber auch eine Beschreibung ihrer Diskriminierungserfahrungen und schwierigen Integration in Deutschland. Nicht zuletzt sind sie auch eine persönliche Anklage gegen die deutsche und britische Kolonialpolitik.
Gescheiterte Rückkehr in die Heimat
Auch eine zweite Sansibar-Reise (1888) auf eigene Faust und gegen den Willen der deutschen Regierung blieb erfolglos, ebenso ihre Bemühungen, über die englische Regierung Kontakt mit dem Sultan aufzunehmen. Enttäuscht und verbittert verlasst Emily Ruete 1888 Deutschland, zieht nach Jaffa und 1892 nach Beirut, wo ihr Sohn als Beamter am deutschen Konsulat arbeitete. Hin- und hergerissen zwischen den verschiedenen Kulturen und Religionen fühlte sie sich nirgendwo mehr zugehörig. „Ich habe keine Heimat mehr auf dieser Erde (…). Ich verließ meine Heimat als vollkommene Araberin und als gute Mohammedanerin und was bin ich heute? Eine schlechte Christin und etwas mehr als eine halbe Deutsche”. (Emily Ruete) Kurz vor Ausbruch des 1. Weltkrieges (1914) kehrt sie nach Deutschland zurück zu ihrer Tochter Rosalie, wo sie am 29. Februar 1924, mit 79 Jahren, in Jena stirbt. Emily Ruetes Urne wurde in der Gruft der Hamburger Familie Ruete auf dem Ohlsdorfer Friedhof bestattet.
Stein des Anstoßes – Fragwürdige Ansichten
Lage Zeit blieben die politischen Ansichten Emily Ruete in ihren Büchern geäußert hatte, ausgeblendet. Erst Ende der 1990er Jahre, als ihr zweites Buch veröffentlicht und ihre Geschichte wiederentdeckt wurde, gerieten die Schattenseilen ihrer Ansichten ins Blickfeld, insbesondere zur Sklaverei, Prügelstrafe und schwarzen Bevölkerung. Emily Ruetes Haltung entsprach der kolonialen Mentalität ihrer Zeit, die die Afrikaner zu einem europäischen Arbeitsethos bekehren und zwingen wollte. Zwar missbilligte Emily Ruete den Sklavenhandel, verteidigte aber die Sklavenhaltung. Ihr Wertesystem blieb orientalisch geprägt, sichtbar im folgenden Zitat: „Die Sklaverei ist eine uralte Institution der orientalischen Völker; ob man sie je wird ganz beseitigen können, bezweifle ich, jedenfalls ist es eine Thorheit, so alte Sitten mit einem Male umstürzen zu wollen.“ (Emily Ruete) Gleichzeitig kritisierte sie die Doppelmoral der Europäer, die in ihren Kolonien und Handelsgesellschaften lange Zeit selbst Sklaven kauften und als Arbeitskräfte nutzten.
Gleichwohl bleibt Emily Ruete in ihren Schriften nicht frei von europäischen Vorurteilen. „Der Neger liebt vor allem die Bequemlichkeit und geht nur zur Arbeit, wenn er muss; so bedarf es der strengsten Kontrolle.“ (Emily Ruete) Insbesondere ihre Haltung zur schwarzen Bevölkerung wurde zum Stein des Anstoßes und brachte ihr den Vorwurf des Rassismus ein, obwohl sie in ihren Büchern auch eine genaue Beobachterin und Kritikerin des alltäglichen Rassismus und kolonialen Blicks in Deutschland war, von dem sie selbst betroffen war.
Kontroverse Erinnerungskultur
Bereits 2007 wurde im „Garten der Frauen” auf dem Ohlsdorfer Friedhof ein Erinnerungsstein aufgestellt, der den Namen Emily Ruete trägt und darauf aufmerksam machen soll, Zuwanderinnen nicht zu diskriminieren. Zwei Jahre späer war im Hamburger Rathaus eine Ausstellung ihrer Lebensgeschichte gewidmet, begleitet von einer intervenierenden Performance der Künstlerin Hannimari Jokinen, die eine Ehrung von Emily Ruete ablehnte, da sie „die Dienste von Sklaven als normal annahm und von ihnen profitierte.”
Seit 2012 gab es immer wieder Versuche, mit Straßen- oder Parkbenennungen an Emily Ruetes Geschichte und Verdienste zu erinnern. 2019 beschloss die Bezirksversammlung Hamburg-Nord, einen Platz im neuen Finkenau-Quartier nach Emily Ruete zu benennen und mit einer Geschichtstafel zu versehen. Doch bereits ein Jahr nach der Einweihung der Schilder wurde die Platzbenennung rückgängig gemacht, nachdem Emily Ruetes Ansichten über Sklaverei und Schwarzafrikaner den politischen Entscheidungsgremien bekannt wurden und die Namensvergabe in der kolonialkritischen Geschichtsbewegung zu Protesten geführt hatte. Die Rücknahme der ursprünglichen Namensbenennung führte in den Medien und der Politik zu heftigen und kontroversen Diskussionen, deren Problematik bis heute aktuell ist: „Die Vergangenheit zu Grabe tragen?“ oder „Die Vergangenheit in die Gegenwart eindringen lassen?“ (Klaus Newmann)
Sayyida Salme bin Said ibn Sultan, auch Sayyida Salme — Prinzessin von Oman und Sansibar – genannt, ist am 30. August 1844 in Beit il Mtoni auf der Insel Sansibar geboren. Ihr Vater, Sayyid Said, war regierender Sultan von Oman und Sansibar. Ihre Mutter Jilfidan, eine Tscherkessin von Geburt, stammte aus dem Westkaukasus. Sie war als Kind von Sklavenhändlern entführt und an den Sultan verkauft worden, der sie in späterer Zeit zu einer seiner Nebenfrauen auswählte und von ihr ein Kind bekam. Sayyida Salme hatte eine unbeschwerte Kindheit und Jugend in privilegierter Umgebung. Sie brachte sich heimlich selbst Lesen und Schreiben bei, lernte Reiten, Fechten und Schießen, was für Mädchen in der muslimischen Kultur damals nicht üblich war. 1856 starb ihr Vater, drei Jahre später verliert sie als 15-Jährige auch ihre Mutter, die bei einer Choleraepidemie starb. Nach dem Tod ihrer Eltern erbte sie von ihnen Plantagen, Wohnhäuser und Geld.
Sansibar – Vor der Küste Ostafrikas
Sansibar ist eine von der muslimischen Kultur geprägte Inselgruppe vor der Küstte Ostafrikas, die aus den beiden Hauptinseln Zanzibar und Pemba sowie einigen kleineren Inseln besteht Sansibar-Stadt entwickelte sich im 19. Jahrhundert von einem kleinen Fischerdorf zu einer Handelsmetropole und war Zentrum des ostafrikanischen Besitzes von Sultan Sayid Said. Wirtschaftlicher Mittelpunkt war der Handel mit Gewürzen, Kaurimuscheln, Elfenbein und Sklaven. Sansibar war in dieser Zeit auch ein beliebtes Ziel von europäischen Missionaren, Forschern und Kaufleuten. Hanseatische Firmen (O’Swald, Hertz, Hansing & Co, H.C. Meyer) spielten eine bedeutende Rolle auf Sansibar und unterhielten mit den regierenden Sultanen enge Beziehungen.
Rudolph Heinrich Ruete und das Handelshaus „Hansing & Co“
Rudolph Heinrich Ruete (1839-1870) war ab 1855 als Handelsvertreter für das Handelshaus „Hansing & Co“ tätig, zunächst in Aden, dann in Sansibar, wo er bis 1867 Leiter der Hamburger Niederlassung war. Sein Wohnhaus grenzte unmittelbar an die Wohnräume des Palastes des Sultans Madjid bin Said an, mit dem er einen Freundschafts- und Kooperationsvertrag unterzeichnet hatte. „Hansing & Co“ war im Handels-, Reederei- und Bankgeschäft tätig und besaß seit 1853 auf Sansibar eine Faktorei. Im Vordergrund der Afrikageschäfte stand der Handel mit Gewürznelken, Ebenholz, Elfenbein und Kaurimuscheln. Im Gegenzug wurden aus Hamburg Textilwaren, Waffen und Munition eingeführt. Die Firma besaß auf Sansibar eine eigene Nelkenplantage, auf des auch Sklaven eingesetzt wurden. In den 1880er Jahren unterstützte das Handelshaus auch die deutschen Kolonialeroberungen in Ostafrika.
Verbotene Liebe – Flucht nach Hamburg und immer weiter
1866 lernte Sayyida Salme den Hamburger Kaufmann Rudolph Heinrich Ruete kennen, der in einem benachbarten Gebäude des Sultan Palastes wohnte. Die beiden verlieben sich, Sayyida Salme wird schwanger. Als Muslimin durfte sie sich nach geltendem Recht nicht mit einem Andersgläubigen einlassen, geschweige denn ein Kind von ihm zur Welt bringen. Sie entschließt sich, Sansibar heimlich zu verlassen. Nach der Geburt ihres Sohnes Heinrich jr. in Aden (1867) lasst sie sich auf den Namen Emily taufen, heiratet Rudolph Heinrich Ruete und bricht mit ihm zusammen Richtung Hamburg auf. Noch bevor sie in Hamburg eintreffen, stirbt ihr Kind.
In Hamburg lebte sie mit ihrem Mann auf der Uhlenhorst „An der schonen Aussicht” Nr. 29. In kurzer Zeit bekommt sie drei weitere Kinder. Obwohl Emily Ruete in ihrer neuen Umgebung ein zunächst sorgloses und zufriedenes Leben hatte, fiel ihr das Leben in der zweiten Heimat nicht leicht. Mit der Zeit lernt sie die Vorzüge der deutschen Kultur kennen und schätzen, aber auch die Schattenseiten. Als Zugewanderte spürt sie in Hamburg bald auch die Zurückhaltung, fragwürdige Neugier und das Misstrauen gegenüber der Fremden. Drei Jahre nach dem Verlust ihres Kindes sieht sie sich erneut vom Unglück verfolgt. Ihr Mann wird 1870 beim Abspringen von der Pferde-Straßenbahn überfahren und stirbt nach dem Unfall.
Die gesicherte Welt der Familie bricht zusammen. Da ihr Mann kein Testament hinterließ und das Hamburger Eherecht damals keiner Frau die eigenständige Verwaltung des Erbes gestattete, konnte Emily Ruete nicht frei über das Vermögen verfugen. Die Vormundschaftsbehörde stellte der Witwe zwei Vormünder zur Seite, die sich als schlechte Berater erwiesen. Zudem verweigerte Heinrich Ruetes Geschäftspartner in Sansibar der Witwe eine Auszahlung der Anteile ihres Mannes, so dass sie ihren bisherigen Lebensstandard nicht mehr aufrechterhalten konnte. Sie muss die Wohnung „An der schonen Aussicht” aufgeben und zieht 1871 in eine kleinere und billigere Wohnung in der Blücherstraße 11 in Uhlenhorst. Nach ihrem Umzug beginnt sie, Schreibunterricht zu nehmen und versuchte in der Folgezeit mit Arabischunterricht und Bücherschreiben ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Ohne ihren Mann fühlte sie sich als alleinstehende Frau von der Hamburger Gesellschaft gemieden und ausgenutzt. Sie entschließt sich, Hamburg zu verlassen und zieht nach Dresden, später nach Rudolstadt, Berlin, Köln. In dieser Zeit schreibt sie ihr erstes Buch, das 1886 veröffentlicht wird.
Auf der Uhlenhorst
Anfang des 19. Jahrhunderts war Uhlenhorst eine sumpfige Wiesenlandschaft und ein beliebiges stadtnahes Ausflugsziel. In den 1850er Jahren setzte zwischen Osterbek und Eilbek die allmähliche Bebauung und Besiedlung ein. 1845 war die Privat-Straße „An der schönen Aussicht” angelegt worden (seit 1899 verkürzt auf „Schöne Aussicht“). Das Alsterufer und das angrenzende Hinterland waren nach dem Bebauungsplan von 1851 für Villen reserviert. Hier siedelten sich vorwiegend Kaufleute an, die mit Überseegeschäften vermögend geworden waren und häufig mit Nord- und Südamerikanerinnen verhelratet waren. Im Anschluss an die Villen gab es auch Etagenhäuser für die Mittelschicht und weiter östlich, Richtung Barmbek, auch Arbeiterwohnungen. „Die Arbeiter wohnten in Uhlenhorst und die feinen Leute auf der Uhlenhorst.“ (Hermann Funke)
Große Gebäude, freie Flächen und ungenutzte Betriebsgelände wurden von den Nationalsozialisten vorzugsweise genutzt, um die zur Zwangsarbeit nach Hamburg verschleppten Menschen unterzubringen. So auch im und rund um den Hamburger Stadtpark. Wie an anderen Orten der Stadt wurden hier während des Zweiten Weltkrieges große und kleinere Barackenlager errichtet, deren Geschichte heute weitgehend vergessen oder unbekannt ist.
Firmenlager
Rund um den Stadtpark gab es auch einige private Unternehmen, die meist auf ihrem Betriebsgelände eigene, kleinere Lager errichteten, in denen ausländische Arbeitskräfte untergebracht waren, die für die Firmen Zwangsarbeit verrichten mussten. In der Nähe des Winterhuder Marktplatzes hatten die Vereinigten Lackfabriken Grau-Relius (Inhaber Wilhelm Carstens & Co) ein Lager für Frauen aus der damaligen Sowjetunion, ebenso die Norddeutsche Nickel- und Silberwarenfabrik Brimmekamp & Co, die auf ihrem Betriebsgelände Barackenunterkünfte für 60 sowjetische Arbeiterinnen bauen ließ. Private Firmenlager gab es im Stadtpark von den Betrieben Schacht und Schmidt, in denen 60 italienische Militärinternierte lebten.
Lager Kleinkaliber Schießstand
Am Schlageterring (heute Südring), östlich der Kegelsporthalle, befand sich von 1942 – 1944 ein Gemeinschaftslager der städtischen Bauverwaltung und des Aufräumungsamtes. Das Lager wurde unter Verwendung des zu Beginn des Krieges stillgelegten, halbfertigen Kleinkaliber Schießstandes errichtet. Ein Teil des Zwangsarbeiterlagers wurde in dem massiven Gebäude des Schießstandes untergebracht. Das Freigelände der Schießanlage wurde benutzt, um drei zusätzliche Wohnbaracken aufzustellen, und zwar Reichsarbeitsdienst-Baracken des Arbeiterlagers der Firma H. Walter (Kiel) und des Luftverteidigungsministers. Die Baukosten wurden mit 175.000 Reichsmark beziffert. Die Bauleitung lag beim Amt für kriegswichtigen Einsatz. Die im Lager untergebrachten ausländischen Arbeitskräfte (bis zu 851) wurden bei Aufräumungsarbeiten (Bombenschäden) und im Rahmen der Bau- und Wohnungswirtschaft eingesetzt (Bunker- und Wohnbarackenbau).
Lager Kegelsporthalle
Große Sport-, Schul- und Kirchengebäude wurden von den Nationalsozialisten nicht selten für Kriegszwecke beschlagnahmt oder umfunktioniert. So wurde auch die 1930 in Betrieb genommene Kegelsporthalle am Schlageterring 36 (heute Südring) von 1942 bis 1945 als Kriegsgefangenenlager (Bau- und Arbeitsbataillon 39) genutzt. Die vorhandenen Räumlichkeiten wie Kücheneinrichtung, Luftschutzräume, sanitäre Anlagen, konnten übernommen werden. Die großen Kegel- bahnen wurden durch Abdeckungen mit Holz zu Schlaf- und Aufenthaltssälen umgewandelt. Kostenträger des Lagers war der Polizeipräsident. Untergebracht waren hier rund 150 Wachmannschaften und 600 Kriegs- gefangene (z.B. aus Frankreich und Italien), die vor allem für Aufräumungsarbeiten eingesetzt wurden.
Stadtparklager Alsterdorf
An der heutigen Hindenburgstraße/Ecke Möringbogen, nahe der U-Bahnstation Alsterdorf, befand sich von 1942 bis 1945 ein großes Zwangsarbeiterlager, damals „Stadtparklager Alsterdorf“ oder auch „Fremdarbeiterlager Stadtpark“, genannt. Mit zehn Baracken, auf einer Fläche von 5,50 ha, und einem Fassungsvermögen von fast 1000 Menschen zählte es zu den größten Lagern im Barmbeker und Winterhuder Raum. In den Jahren 1942/43 war das Lager mit durchschnittlich 800 Menschen belegt. Baubeginn war der 1. April 1941. Die Baukosten wurden mit 1.140.000 Reichsmark veranschlagt. Bauträger war die Gemeindeverwaltung, die Bauleitung lag beim Hochbauamt. Die Bewirtschaftung und Betreuung der Lagerbewohner erfolgte durch die Deutsche Arbeitsfront (DAF) auf Kosten der Gemeindeverwaltung. Die DAF war in der Zeit des Nationalsozialismus der Einheitsverband der Arbeitnehmer und Arbeitgeber, nachdem 1933 die freien Gewerkschaften aufgelöst worden waren. Beim Bau des Anfang 1942 fertiggestellten Lagers wurde auf gebrauchte Holzbaracken der Luftwaffe zurückgegriffen. Neben den eigentlichen Wohnbaracken enthielt das nach den Vorschriften der DAF errichtete Lager auch Küchen, Gemeinschaftsräume, Vorratsschuppen, Lazarett- und Verwaltungsbaracken, Wasch- und Abortbaracken sowie Luftschutzräume.
Das Amt für kriegswichtigen Einsatz (AkE) hatte für das Lager auch eine sogenannte B-Baracke vorgesehen, d.h. eine Bordellbaracke mit 10 Frauen. Dadurch sollte die Zahl der unehelich geborenen Kinder von „Fremdvölkischen“ eingedämmt werden. Die Kosten für diese Baracke wurden von der DAF bereitgestellt. Untergebracht waren in dem Stadtparklager Kriegsgefangene, die dem Dachdecker Bataillon III zugeordnet waren, sowie Zivilarbeiter aus verschiedenen Ländern (z.B. aus den Niederlanden), die für die Deutsche Arbeitsfront und verschiedene Firmen arbeiten mussten (z.B. für Blohm & Voss). Sie wurden vor allem beim Ersatzwohnungsbau und bei der Instandsetzung von Bombenschäden eingesetzt.
Treffpunkt Stadtpark
Nach den Bombenangriffen 1943 auf Hamburg und insbesondere als das Ende des Krieges abzusehen war, bekamen die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen die Erlaubnis, das Lager in der freien Zeit zu verlassen. Kontakte, Gespräche mit Deutschen blieben jedoch verboten. Zwangsarbeiter aus der ehemaligen Sowjetunion und aus Polen mussten das Zeichen „Ost“ bzw. „P“ tragen, damit sie sofort zu erkennen waren. Ein besonders beliebtes Ausflugsziel war der Hamburger Stadtpark, der den Zwangsarbeitern als Treffpunkt diente und es ihnen ermöglichte, der Enge und Bewachung im Lager zu entgehen, zumindest für kurze Zeit.
Zeitzeugin: Alexandra Paramonowna Waitkus, 2002
Ich hatte einen russischen Freund, später wurde er mein Mann. Er arbeitete bei Kampnagel, war im Lager Poßmoorweg untergebracht. Wir gingen zusammen in den Stadtpark, wenn alle Russen frei hatten. Dort hatten wir so eine Art Treffen für zwei Stunden. Dort haben wir uns natürlich geküsst. Wozu ein Geheimnis machen. Als ich dabei etwas verspätet nach Hause kam, sagte die Hausherrin, bei der ich als Kindermädchen und Haushaltshilfe arbeitete, zu mir: ‚Alexandra, ich lasse dich nicht mehr hingehen. Sonst wird mir noch ein Baby gebracht‘. Es war uns egal, ob die Bomben vom Himmel herunterfielen oder nicht, wir hätten uns trotzdem getroffen. Ohne diese Liebe, vielleicht hätte es gar nichts gegeben. Wir genossen jeden einzelnen Tag. Morgen wirst du tot sein, und du wirst niemanden mehr küssen können.
Wladimir Jegorow, 2004
Einmal gingen wir im Sommer im Stadtpark spazieren. Er war nicht weit von unserem Lager entfernt. An diesem Tag führte die Gestapo eine Razzia im Stadtpark durch. Festgenommen wurden alle, die kein „Ost“-Zeichen auf der Kleidung getragen hatten. Ich ging auch ohne es spazieren, aber an diesem Tag hatte ich das „Ost“ getragen. Fast zwanzig Menschen, alle russische Zwangsarbeiter, wurden festgenommen und in einen Raum gesperrt. Ich war auch unter den Verhafteten, aber nachdem sie festgestellt hatten, dass ich das „Ost“ auf meiner Kleidung trug, wurde ich freigelassen.
Wie in anderen industriell geprägten Stadtteilen wurden in der Zeit des Nationalsozialismus auch in vielen Barmbeker und Winterhuder Betrieben ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Militärinternierte zur Zwangsarbeit eingesetzt. Mit ihnen sollte der Arbeitskräftemangel in der Produktion und Versorgung ausgeglichen und die deutsche Kriegsindustrie unterstützt werden.
Fast eine halbe Million
Zwischen 400.000 und 500.000 Menschen waren während des Zweiten Weltkrieges (1939 – 1945) zur Zwangsarbeit nach Hamburg verschleppt worden – Männer, Frauen, Kinder, z.B. aus Frankreich, Holland, Italien, Polen und der Sowjetunion. Sie waren in rund 1300 Lager über das gesamte Stadtgebiet verteilt. Ca. 1000 Hamburger Unternehmen setzten ausländische Arbeitskräfte ein. In Barmbek und Winterhude waren es ca. 76. Davon waren 51 ortsansässig. Zu den bekanntesten und größten Firmen zählten die Maschinen- und Werkzeugfabrik Heidenreich & Harbeck, die Maschinen- und Kranfabrik Kampnagel, die New-York Hamburger Gummi-Waaren Compagnie, die Gummi- und Asbestfabrik Tretorn und die Fischfabrik Walkhoff. Aber auch städtische/staatliche Einrichtungen nutzten ausländische Arbeitskräfte, z.B. das Gaswerk, die Hoch- und Reichsbahn, Krankenhäuser, die Bauverwaltung, das Amt für kriegswichtigen Einsatz und die Deutsche Arbeitsfront.
Unterkünfte
Untergebracht waren die Zwangsarbeiter in Gaststätten, Schulen, Sportstätten, Kirchen- und Betriebsgebäuden. Um eine bessere Überwachung zu ermöglichen, ordnete der Hamburger NSDAP-Gauleiter Karl Kaufmann im März 1941 an, dass alle ausländischen Arbeitskräfte in speziellen Lagern unterzubringen sind. Daraufhin entstanden verteilt über die ganze Stadt zahlreiche Barackenlager, so auch in Barmbek und Winterhude. Hier gab es in der Kriegszeit ca. 105 Lager, die sich in ihrer Form, Nutzung und Trägerschaft unterschieden. Es gab Firmenlager, die von einzelnen Betrieben oft auf dem Firmengelände eingerichtet wurden, es gab Gemeinschaftslager , die von mehreren Unternehmen genutzt und getragen wurden, und es gab Kriegsgefangenenlager, die in der Regel von der Wehrmacht verwaltet wurden.
Arbeits- und Lageralltag
Die Lebens- und Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiter waren sehr unterschiedlich. Entsprechend der nationalsozialistischen Rassenhierarchie waren die osteuropäischen Arbeitskräfte auf der untersten Stufe angesiedelt. Während westeuropäischen Zwangsarbeitern größerer Bewegungsspielraum zugestanden wurde, bestanden für Arbeitskräfte aus Polen und der Sowjetunion Sondervorschriften und strengere Auflagen. Sie mussten Abzeichen auf ihrer Kleidung tragen, sie bekamen geringstmöglichen Lohn, unzureichende Ernährung und harte Strafen bei Verletzung der Vorschriften. Kontakte zur deutschen Bevölkerung waren streng verboten.
Zeitzeugin: Alla Tscherkossowa, 2007
Ich war in Deutschland von 1942 bis 1945. Ich arbeitete bei der Norddeutschen Nickel- und Silberwarenfabrik Brimmekamp am Winterhuder Marktplatz 18 a. Unser Lager war auf dem Fabrikgelände. Im ersten Jahr arbeitete ich als Gasschmelzschweißerin. Danach – als meine Augen weh taten – wurde ich beim Punktschweißen eingesetzt. Wir stellten große Kisten für Granaten und Granatengehäuse her. Es waren Meister, die uns bewachten. Wir arbeiteten ohne Pausen. Zuerst arbeiteten wir nur 8 Stunden pro Tag, um uns an die Arbeit zu gewöhnen, danach 12 Stunden, von 6 bis 18 Uhr. Eine Woche Tagschicht, die nächste Woche Nachtschicht. Sonntags war frei. Zur Arbeit und zurück gingen wir immer mit der Wache. Das Essen war sehr schlecht: Kohlrüben, Blumenkohl. Die Suppe aus Kartoffelschalen. Ein Kessel mit Rotkohl und ein Brötchen für eine Woche. Wir aßen das Brötchen in zwei Tagen und gingen hungrig los. Ich wog damals 43 Kilo. Wir wohnten in einer Baracke mit drei Zimmern, jeweils mit 20 Menschen. Insgesamt waren wir 58, später 55 Frauen. Dann gab es noch einen Raum mit Waschbecken und drei Duschen. Im Winter war es dort sehr kalt. In der Nachtschicht klauten wir Kohle aus der Fabrik und wärmten unsere Zimmer.
Wie er vor den Eingang der Geschichtswerkstatt kam – und woher
Im Frühjahr 1989 wurde der Stein hergebracht und in unserer kleinen Anlage aufgestellt, mit Einverständnis des Bezirksamts und des Denkmalschutzamts sowie mit tätiger Unterstützung des Gartenbauamts. Bis dahin hatte er am Reyesweg gestanden, halb von Strauchwerk überwachsen und unbeachtet. Als wir ihn bei einem Stadtteilstreifzug bemerkt hatten, nahmen wir uns vor, ihn seinem Dornröschenschlaf zu entreißen. Natürlich fragten wir uns gleich (wie wohl auch die Leser jetzt): Was hat das Amt der Reeper mit dem Reyesweg zu tun? Die Antwort: gar nichts. Der Stein ist dort erst 1931 – nach der Auffindung an der Gluckstraße – aufgestellt worden, sicherlich weil an der anderen Seite derselben Anlage schon der Stein stand, der an die 1814 in Barmbek gestorbenen Hamburger erinnert. (Sie waren von der französischen Besatzung der Belagerung wegen aus der Stadt vertrieben worden.) An der Gluckstraße aber hat es eine Beziehung zum Reepergewerbe gegeben.
Der Fundort Gluckstraße 63 – 67
Das Grundstück 63 – 67 war vor der Anlegung der Gluckstraße (in dem Abschnitt 1903) Teil eines etwa doppelt so großen langgestreckten Grundstücks, das dem Holsteinischen Kamp zugezählt wurde: Nr. 98 – 100. Dies erwarb zum 31. März 1883 Heinrich Hermann Siegeler. Laut Bauakte legte Siegeler auf dem Grundstück eine Reeperbahn an. (Dabei gab es allerdings nicht viel anzulegen. Die Reepe wurden unter freiem Himmel geschlagen. Eine Überdachung wurde nur gebraucht, um die Taue zu trocknen, nachdem sie in Teer getaucht worden waren. Ob die Siegelers das aber in Barmbek überhaupt noch machten, ist fraglich.) H. H. Siegeler entstammte einer alten Reepschlägerfamilie. Julius Hermann, 1880 Korporationsvorsteher geworden, könnte sein Vater oder Onkel gewesen sein. Julius Hermann jun. sein Bruder oder Vetter. Ob Hermann Heinrich selber Reeper war, konnten wir nicht ermitteln. Welchen Beruf er auch ausübte, die Barmbeker Bahn dürfte gemeinschaftlich von der Familie genutzt worden sein. Warum sie gerade zu diesem Zeitpunkt eine neue Bahn anlegte und was für Barmbek sprach, das erklären wir im nächsten Kapitelchen.
Barmbeker Reeper
Ab 1. April 1883 standen der Korporation der Reeper ihre Bahnen auf St. Pauli nicht mehr zur Verfügung. Falls die Siegelers nicht noch eine andere Ausweichmöglichkeit hatten, zogen sie also erst im letzten Augenblick um. Die Korporation war übrigens das Amt (die Zunft) in neuer Gestalt. Nach Einführung der Gewerbefreiheit 1864 hatten sich die meisten Zünfte aufgelöst. Wenn sie weiterbestehen wollten, so konnten sie’s nur als freie Korporationen. Die Reeper entschieden sich vermutlich nur aus einem Grund für diese Möglichkeit: Um den Eigentumsanspruch auf das Bahnengrundstück aufrechtzuerhalten. Es war im Raum von Seilerstraße und Reeperbahn von beträchtlicher Größe. Eine Urkunde, aus der die Rechtsform der Überlassung seitens der Stadt (1626) hervorgegangen wäre, existierte nicht. So war der Anspruch der Reeper anfechtbar.
In den 1870er Jahren entspann sich ein Rechtsstreit um das Grundstück zwischen Stadt und Korporation, der 1882 mit einem Vergleich endete: Die Korporation verzichtete auf alle Ansprüche, die Stadt zahlte dafür 1.060.000 Mark. (Damals eine enorme Summe. Immerhin erzielte die Stadt schließlich ‚unterm Strich‘ einen Gewinn von rund 1,6 Millionen.)
Wir können nur mutmaßen, was die Siegelers nach Barmbek führte. Ob der Zigarrenarbeiter J. B. Siegeler, der in den 1880er Jahren als Bewohner im Holsteinischen Kamp 60 verzeichnet ist, ein Verwandter war, wissen wir nicht. Aber wir wissen, dass vor 1883 Reepschläger in Barmbek tätig waren. 1848 wird dem Reeper F. J. Hollwanger gestattet, seine Bahn von der einen Seite der Oberaltenallee (wo er auch wohnt) auf die andere Seite zu verlegen. Hollwanger muss damals als „Unzünftiger“ gearbeitet haben. In Barmbek, das damals noch nicht voll in die Stadt Hamburg eingegliedert war, konnte er das. Eine recht provisorische Bahn: Hollwanger durfte auf dem Sommerweg zwischen Parzellen und Fahrweg seine Reepe schlagen.
1866 beschwerten sich Bewohner der Hamburger Straße 104 – 162 über Hollwanger, der nunmehr vor ihren Türen seine Taue schlägt. Gleichwohl wurde der Betrieb von J. A. Hollwanger weitergeführt. Auch als seine Adresse ist zunächst Hamburger Straße 141 angegeben. Später und bis 1890 Hamburger Straße 192, Haus 19. Dass er zu dieser Zeit allerdings bei dem gewachsenen Verkehr noch auf dem Sommerweg Taue schlug, ist schwer vorstellbar. – In den Adressbüchern erscheint von Ende der 1860er bis Ende der 1880er Jahre noch ein zweiter Barmbeker Reeper, C. Wolters, erst mit der Geschäftsadresse Bartholomäusstraße 42, dann Bramfelder Straße 71. Über seine Arbeitsstätte ist uns nichts bekannt. Ob Hollwangers und Wolters‘ Ansässigkeit tatsächlich bei Siegelers Entschluss, sich in Barmbek niederzulassen, mitgespielt hat, ist indes völlig ungewiss. Und völlig offen ist noch immer die Frage, was es mit dem Stein auf sich hat.
Die Technik der Reepschlägerei/Reeperbahnen
Eine Reeperbahn war im Grunde nur ein gut gangbarer Weg von bis zu 300 Metern Länge. An einem Ende stellte der Reeper sein Rad auf. Er machte den Anfang des herzustellenden Strangs daran fest und entfernte sich rückwärtsgehend davon. Dabei zupfte er Fasern aus dem Hanfbündel, das er sich um den Leib gebunden hatte, und zwirbelte sie zu einem immer länger werdenden Faden zusammen (wie beim Spinnen). Das Rad diente dazu, den Strang ständig zu drehen. Mithilfe eines Seil, das er am Körper befestigt hatte, hielt der Reeper das Rad in Bewegung. – In einem zweiten Arbeitsgang wurden mehrere Fäden zu einer Litze und in einem dritten mehrere Litzen zu einem Tau (einem „Reep“) zusammengedreht („geschlagen)“.
Wozu der Stein ursprünglich gedient haben mag – und wie er vergessen wurde
Wir halten es für höchst wahrscheinlich, dass die Siegelers den Stein nach Barmbek brachten. Sie waren ja nicht irgendeine Reeperfamilie: Julius Hermann sen. war – wie gesagt – 1880 Vorsteher der Korporation geworden und war es wohl ’83 noch. Die Korporation war gerade 1883 ziemlich bedeutungslos geworden. Seit einiger Zeit schon kümmerte das einst geachtete und blühende Reepergewerbe nur noch dahin. (Mit industriellen Herstellern konnten die Reeper nicht mehr konkurrieren und ohnehin war der Bedarf an hanfenen Schiffstauen stark zurückgegangen – denn Dampfschiffe brauchten kein Tauwerk für die Takelage, und für manche Anwendungen waren die neuen Stahltrossen geeigneter als Taue.) So ist erklärlich, dass die Siegelers den Stein des Amtes an sich nahmen und auf dem Barmbeker Grundstück bei der ‚Familienbahn‘ abstellten. Doch welche Funktion hatte der Stein ursprünglich? Eine Zeitlang dachten wir, er sei einer der Steine gewesen, die die Begräbnisplätze der Zünfte markierten. (Eine Sammlung solcher Steine ist auf dem Ohlsdorfer Friedhof zu besichtigen.) Die Friedhofssteine aber waren ansehnlicher: regelmäßiger geformt, mit Schmuckschrift und Verzierungen. Die 1787 noch florierende Reeperzunft hätte sich sicher nicht mit einem derart schlichten Stein ‚blamieren‘ wollen. Außerdem passt das Datum 1787 nicht; kurz danach wurden die Friedhöfe vor dem Dammtor eröffnet. Eher als an Friedhofssteine erinnert ‚unser‘ Stein an Grenzsteine. Als Besitzer des Bahnengrundstücks war das Reeperamt in etliche Grenzstreitigkeiten mit nördlichen Anrainern der alten Landstraße nach Altona („Reeperbahn“) verwickelt. Vielleicht wurde an einer der strittigen Grenzen der Stein aufgestellt, um ein für allemal Klarheit über den Verlauf zu schaffen. 1787 könnte dann das Jahr gewesen sein, in dem der Streit entschieden wurde. Was die Jahreszahl angeht, überzeugt uns unsere Mutmaßung allerdings – zugegeben – selber nicht recht. Eventuell könnten Archivakten in diesem Punkt noch Aufschluss bringen.
Kann auch sein, dass es mit der Jahreszahl eine ganz andere Bewandtnis hat (und sich von ihr aus die Funktion des Steins erklärt). In Anbetracht der baulichen Veränderungen, die Siegeler auf seinem Barmbeker Grundstück vornahm, ist kaum anzunehmen, dass dort nach 1890 noch in nennenswertem Maße Taue geschlagen wurden. Übrigens wurde offenbar auch die ’83 schon vorhandene Kegelbahn weiterbetrieben. 1903 wurde das Siegelersche Grundstück versteigert. Was die Familie dazu veranlasst oder gezwungen hat, wissen wir nicht. Der Stein ist wohl einfach stehen gelassen worden. Die noch lebenden Siegelers, die Erben hatten vielleicht keinen Sinn mehr für die Familien- und Zunfttradition (obwohl sich noch welche in der Tauwerk-Branche betätigten) oder sie hatten den Kopf voll mit wichtigeren Dingen. – Aber ein Granitstein ist langlebig, und irgendwann kann er mitsamt seiner Geschichte wieder auftauchen im Bewusstsein der Menschen (naja, einiger Menschen).
Das Bahnen-Grundstück der Reeper auf St. Pauli 1882. Rechts die Seilerstraße mit der Häuserzeile an deren Nordseite. Am Rand des Reepergrundstücks zur Seilerstraße hin ist ein Stein zu erkennen, der ‚unserem‘ sehr ähnlich sieht. Was für ein Stein dies war, ist unbekannt, und wir wollen uns nicht zu der Mutmaßung hinreißen lassen, es könne ‚unser‘ Stein gewesen sein. Der Grenzverlauf war an dieser Seite wohl unstrittig, also ein eigentlicher Grenzstein überflüssig. Ob die Darstellung in diesem Detail wirklichkeitsgetreu ist, wissen wir übrigens auch nicht. Trotz allem hat uns die Beobachtung ein wenig in dem Gefühl bestärkt, auf der richtigen Fährte zu sein. – Zeichnung von Ebba Testorpf (Museum für Hamburgische Geschichte).
In der Hufnerstraße 113 wohnte bis zur Ausbombung 1943 die Familie Giordano. In dem Roman „Die Bertinis“ hat Ralph Giordano das Schicksal seiner Familie verarbeitet. Seine jüdische Mutter wurde vor der Deportation bewahrt, weil Grete Schulz, eine frühere Nachbarin, die Familie in einem Kellerraum in der Alsterdorfer Straße vor der nationalsozialistischen Verfolgung versteckte.
Sandkiste
Nach der Schule – die Sandkiste. Das war ein mauerumschlossenes Dreieck zwischen Rübenkamp und Bahndamm, mit einem abgesonderten Altenteil, einem Pinkelwinkel – Nur für kleine Kinder (woran sich niemand hielt), zwei Schaukeln, einer Wippe und Sand, Sand, Sand. Da wurde gegraben und gehäufelt – Schlösser, Burgen, Wolkenkratzer, Höhlen gar, Tiergestalten, kleine und große. Es muss in den Sommerferien 1935 gewesen sein. Ich betrete vormittags die Hufnerstraße und gehe in Richtung Sandkiste, um dort meine Spielgefährten zu treffen. In dem Moment kommen mir drei von ihnen entgegen. Ich sehe in drei Gesichtern, die mich anders anschauen als bisher. Da ist irgend etwas Neues drin. Dann bleibt mein bester Freund kurz vor mir stehen und sagt: „Ralle, mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude!“ (Ralph Giordano)
Der Liegende Panther im Stadtpark
Der Vater hatte sich angewöhnt, sie (die Bertini-Brüder) in die Nähe des Planschbeckens zu führen, vor einen Panther aus Stein, eine ruhende Majestät mit mächtigem, glatten Schädel, tiefliegenden, dreieckigen Augenhöhlen und dickem Schweif. Unter ihrer atemlosen Anteilnahme begann Alf den Stein zu streicheln, ‚Ei du liebes, ei du gutes Tier‘ zu raunen, und den Panther immer sanfter zu tätscheln. Plötzlich aber versetzte er ihm mit der flachen Hand eine derbe Ohrfeige, sprang, wie um sich vor der Wut des getäuschten Raubtiers zu schützen, weit zurück, packte seine jubelnden, bebenden Söhne und lief mit ihnen in die Sicherheit eines beträchtlichen Abstandes. Für Cesar und Roman gab es kein größeres Vergnügen als diese väterlichen Vorstellungen. (Ralph Giordano)
Grete Schulz
Grete Schulz war das, was in der Alltagssprache eine ‚einfache Frau‘ genannt zu werden pflegt, aber nicht in der Variante eines abschätzigen Untertons, sondern im Sinne stillschweigender Bewertung eines Menschen, der sich nicht durch hohe Schulbildung, sondern durch die seines Herzens auszeichnet. Ich sehe sie noch vor mir, in der blauen Uniform ihrer Dienstverpflichtung bei der Reichsbahn, eine attraktive Frau, hellwach, absolut irdisch und voller Verachtung für alles, was mit dem Hakenkreuz zu tun hatte. Wir Giordanos werden das Andenken dieser Frau ehren bis an unser Ende. (Ralph Giordano)
Volksschule Bramfelder Straße
In der Volksschule Bramfelder Straße waren die Gebrüder Giordano Ausnahmeerscheinungen. Die innere Selbstverständlichkeit, mit der der Vater das Wunderkind sich von der profanen Umgebung abheben wollte, hatte seinen sichtbaren Ausdruck in der Frisur der Söhne gefunden – unsere Haare waren mal pagen-, mal bubikopfhaft geschnitten, auf jeden Fall mädchenhaft lang. Einen solchen Kopfschmuck wies kein anderer der etwa fünfhundert Schüler auf. Die Hänseleien, denen wir deshalb ausgesetzt waren, trugen wir zwar mit einem gewissen Trotz, aber doch auch mit dem innigen Wunsch, möglichst bald von der äußeren Abhebung befreit zu werden. (Ralph Giordano)
Gelehrtenschule Johanneum
Ich hatte auf dem Johanneum nie über meine Verhaftung durch die Gestapo gesprochen. Aber natürlich war die Schulleitung davon unterrichtet worden. So einer konnte, so einer durfte nicht mehr Johanniter sein. Und wer zweimal das Klassen- ziel nicht erreichte, musste ohnehin gehen. Nach sieben Jahren verließ ich, mitten aus der letzten Unterrichtsstunde heraus, abschiedslos das Johanneum. Ecke Maria-Louisen-Strasse/Dorotheenstrasse drehte ich mich noch einmal um und warf einen Blick zurück auf das massige, imponierende Gebäude. Mir war weh, mir war sehr weh ums Herz. (Ralph Giordano)
Ralph Giordano – Elternhaus und Geschwister
Seine Kindheit und Jugend verbrachte Ralph Giordano in der Hufnerstraße 113, wo er mit den Eltern und seinen beiden Brüdern, Egon und Rocco, in bescheidenen Verhältnissen bis zur Ausbombung 1943 lebte. Die Eltern hatten zuvor in Barmbek-Süd, in der Heitmannstraße gewohnt. Der Vater, Alfons Giordano (1896–1972) war Pianist, Akkordeonist, Kapellenmeister. Als „Mann am Klavier“, als Bar- und Kinopianist versuchte er durch das Leben zu kommen. Er trat unter anderem im Alsterpavillon und im Stadtpark-Restaurant auf.
Ralph Giordanos Mutter, Lilly Giordano (1897– 1980), geborene Seligmann-Lehmkuhl, war Klavierlehrerin. Mit den Klavierstunden, die sie in der Mietwohnung in der Hufnerstraße 113 gab, trug sie wesentlich zum Lebensunterhalt der Familie bei. Dass die Mutter jüdischer Herkunft war, blieb lange Zeit ohne größere Bedeutung. Es spielte im Stadtteil Barmbek, in dem der jüdische Bevölkerungsanteil gering war, keine Rolle. Bis 1933, als die nationalsozialistische Propaganda auch in Barmbek nicht ohne Wirkung blieb und die zahlreichen Einschränkungs- und Verfolgungsmaßnahmen des NS-Regimes auch die Barmbeker Juden wie auch die „Mischfamilien“ trafen. 1935 wurde Lilly Giordano aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen und durfte nicht mehr Musik unterrichten, weil sie Jüdin war. 1943 wurde auch Ralph Giordanos Vater, „Nichtjude“, aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen, wodurch sich seine Verdienst- und Auftrittsmöglichkeiten als Musiker weiter verschlechterten.
Ralph Giordano besuchte zunächst die Volksschule am Zoll, nördlich der Bramfelder Brücke gelegen. Im März 1933 gelang es den Eltern, ihre Söhne Egon und Ralph in der Hamburger Gelehrtenschule des Johanneums in Winterhude unterzubringen und von der Zahlung des Schulgeldes befreien zu lassen, obgleich sie als „Halbjuden“ eingestuft wurden. Hier erlebte Ralph Giordano die ersten Schikanen und Demütigungen durch Nazi-Lehrer, begleitet von Ausgrenzungen auf der Straße und den Spielplätzen: „Ralle, mit dir spielen wir nicht mehr, du bist Jude.“ 1940 musste Ralph Giordano mit 16 Jahren die Schule verlassen, ebenso sein Bruder. Es folgte eine Zeit, die von Hunger, Flucht, Furcht und Selbstmordabsichten geprägt war. Zweimal wurde Ralph Giordano im Stadthaus von der Geheimen Staatspolizei verhört, gedemütigt und gefoltert. Die Angst vor dem jederzeit möglichen Tod wurde für ihn zu einem Schlüsselerlebnis seines Lebens.
Vom 29. auf den 30. Juli 1943 erfolgte die Ausbombung und Zerstörung des Wohnhauses in der Hufnerstraße. Der Familie gelang es, sich in Richtung Stadtpark in Sicherheit zu bringen und nach Bösdorf zu fliehen. Auf Befehl der Gestapo musste sie jedoch wieder nach Hamburg zurück, wo die Deportation der Mutter ins KZ drohte. Auf der Suche nach einem illegalen Versteck traf Ralph Giordano im Herbst 1944 die ehemalige Nachbarin, Grete Schulz wieder, die Mitte der 1930er Jahre in die Hufnerstraße 113 eingezogen war und zu den wenigen Menschen zählte, denen die Familie vertrauen konnte. Grete Schulz hatte sich nach der Ausbombung in den Ruinen der Alsterdorfer Straße 470 einen Waschkeller als Unterkunft provisorisch ausgebaut. Hier entdeckte Ralph Giordano einen Kellerraum – feucht, kalt, dunkel und dreckig. Die Zustimmung der ehemaligen Nachbarin, sich hier zu verstecken, rettete den Giordanos das Leben.
Ralph Giordano – Schriftsteller und Filmautor
Am 10. Dezember 2014 ist der 1923 in Hamburg-Barmbek geborene und auf- gewachsene Schriftsteller, Journalist und Filmautor Ralph Giordano im Alter von 91 Jahren gestorben. Unermüdlich hat er gegen Ungerechtigkeit, Unmenschlichkeit und gegen das Vergessen angeschrieben. Einem größeren Publikum wurde Ralph Giordano bekannt durch seinen Roman „Die Bertinis“, der 1982 erschien und 1988 auch verfilmt wurde. In dem Roman verarbeitet Giordano das Schicksal seiner Familie, seine Kindheit und Jugend in Hamburg-Barmbek, wie auch in seiner späteren Biographie „Erinnerungen eines Davongekommenen“ (2007).
Unvergessen bleiben seine zahlreichen Besuche und Lesungen in Barmbek, insbesondere auch sein gemeinsamer Besuch mit dem ebenfalls aus Barmbek stammenden Jugendfreund Hans-Jürgen Massaquoi, Autor des Buches „Neger, Neger, Schornsteinfeger“, in der Geschichtswerkstatt Barmbek, bei der Ralph Giordano seit 1986 Mitglied war. Unvergessen bleiben auch seine Auftritte bei der alljährlichen Verleihung des Bertini-Preises im Ernst Deutsch Theater – ein Wettbewerb, mit dem junge Menschen gewürdigt werden sollen, die sich mit der NS-Vergangenheit, mit Rechtsradikalismus und Zivilcourage kritisch auseinandersetzen.
Erbaut wurde er 1927 bis 1928 vom Architekturbüro Puls und Richter, die zugleich Bauherren waren. Die Kriegsschaden haben ihn nicht entstellt. Bemerkenswert, wie er sich mit seinen Putzfronten an Straße und Hof von den Backsteinblocks jener Jahre abhebt. Eine fast südländische Note macht ihn in Barmbek ganz einzigartig. In der Formgebung moderner als beispielsweise die Putzbauten am Habichtsweg, wirkt er doch nicht so streng und karg wie die Blocks von Ostermeyer und Schneider (Fuhlsbüttler Straße/Dennerstraße, Habichtsplatz). Manche Betrachter fühlen sich an Wiener Gemeindebauten der Zeit erinnert. Der Wechsel mit Backsteinabschnitten belebt die Wasserseite, offenbar eine Anregung für die großflächiger gegliederten Neubauten am Flachsland. Im Kanal-Tiefgeschoss wurden nach dem Kriege Boote gelagert, wenn nicht schon früher.
Der Name erinnert wie der seit langem stillgelegte Grillenscheucher-Brunnen im schönen Hofraum an Daniel Bartels (1818-89), Bürochef und Archivar von Beruf, humoriger Verseschmied aus Liebhaberei. Seine einst beliebten Werkchen sind in den 10 Bänden des „Grillenscheuchers“, eines Gemütsaufheiterers also, zusammengefasst. Die Terrakottajungfrauen sind wie der anspruchslose Brunnen von dem Bildhauer Ludwig Kunstmann (1877-1961) geschaffen. Isoliert gesehen, mag ihr Kunstrang verschieden beurteilt werden. In der Art, wie sie den rundbogigen Torweg flankieren, sind sie ein gutes Beispiel harmonisch mit Gebäuden verbundener Plastiken im Stadtraum.
Ein nicht so gutes Beispiel gewollter Eigenständigkeit: die Bronze vorm Haus der Jugend am Flachsland. Die neue Auffassung von der Kunstwerkfunktion, die sich im Förderprogramm „Kunst am Bau“ langsam durchsetzte, führte eben nicht immer zu besseren Ergebnissen.
„Up’n Flachsland Wisch“ hieß das hier am Osterbekbach gelegene Flurstück, auf dem die Barmbeker Bauern Flachs für Öl und Leinen anbauten. Wisch bedeutet Wiese. 1884 wurde die Straße angelegt. Schon 11 Jahre früher, 1873 wurde an der Südseite (Hausnummer 31) eine Fabrik errichtet. Verschiedene Produktionen wechselten sich auf dem Grundstück bis in die letzte Nachkriegszeit ab. Es begann mit Dampfkesseln und endete mit Armaturen (Firma Sauerland). Von den kleinen Wohnhäusern, die um 1890 herum entstanden, ist eines an der Wasserseite übriggeblieben (Hausnummer 44). Erster Besitzer war ein Sohn des Betriebsleiters der Gummifabrik auf der andern Osterbekseite. 1901 hielt er noch einmal die Bachsenke im Foto fest: Jenseits weiden Kühe, links ist schon die Aushubkante des Kanalbetts zu sehen. Bald wird der größte Teil des Gartens verloren sein. 1901/1902 wurde der Kanal gebaut. Danach kamen die hohen Etagenmietshäuser hinzu, die der Straße bis zu ihrer Zerbombung das städtische Gepräge gaben.
Erwähnenswert im Eckhaus Flachsland 23 ist die Gastwirtschaft von Robert Mause, in der der Musikclub Lassalle verkehrte, ein Stück Arbeiterkultur. Roberts Bruder Gustav war Wirt in der Pro-Burg in der Lohkoppelstraße. Seit 1996 bestimmt die einheitlich gestaltete Häuserzeile der Frank-Gruppe das Bild der Straße. (Planung durch APB). Der Bau wurde schon 1995 vom Architekten- und Ingenieurs-Verein Hamburg prämiert. Die großzügig gegliederte Rückfront ist die eigentliche Schauseite. Neubauten gibt es auch in der Maurienstraße. Die Feuerwache wurde 1991 hierher verlegt von der Bachstraße, wo sie 1898 das alte Spritzenhaus am Markt ersetzt hatte. Nur das Fehlen der Brücke erinnert noch unübersehbar an den Krieg.
Um die Jahrhundertwende gab es hier beidseits der Fuhlsbüttler Straße fast keine Bebauung. Erst in den 1920er Jahren entstand auf immer noch weithin freiem Gelände das neue Wohnquartier. Barmbek-Nord ist also rund 40 Jahre jünger als der Süden. Und anders als der Süden hat es, über Zerbombung und Wiederaufbau hinweg, sein Gesicht behalten. So wie das Franksche Laubenganghaus gleich hierneben. Barmbek-Nord wurde nicht so gebaut, wie es der Bebauungsplan vorsah. Durch viele Änderungen im Kleinen realisierte Schumacher faktisch einen anderen, besseren, Plan.
Das alt-neue Gesicht Barmbek Nords
Wenn wir einmal das jüngere Barmbek-Nord (zwischen Hellbrookstraße und Meister-Bertram-Straße) für sich nehmen, so war der Zerstörungsgrad hier bei Kriegsende erheblich niedriger als in Barmbek Süd. Der amtliche Schadensplan vom Sommer 1945 verzeichnet, grob geschätzt, bei einem Drittel der Häuser Totalschaden. Zirka zwei Drittel waren leicht bis schwer beschädigt oder unbeschädigt. Der Eindruck, den viele Straßenzüge Barmbek Nord heute machen, täuscht. Gebäude, die aus der Vorkriegszeit, zumeist den 20er Jahren, zu stammen scheinen, waren bei Kriegsende in Trümmer gesunken oder völlig ausgebrannt. Sie wurden nach den alten Plänen wiederaufgebaut. (Teils wurden alte, aus dem Schutt herausgeholte Steine verwendet. Wer aufmerksam hinschaut, entdeckt oft „Nahtstellen“ zwischen altem und erneuertem Mauerwerk. Das Foto von 1943 zeigt ein stehengebliebenes Stück Rückwand (Hochbahnseite) des Laubenganghauses.
Das Franksche Laubenganghaus
Laubenganghaus nannten die Brüder Frank einen von ihnen entwickelten Haustyp, den sie erstmals 1927 hier am Heidhörn parallel zur Hochbahn bauten. Paul A. R. Frank war Architekt, sein Bruder Kaufmann. Das Laubenganghaus war ein Versuch, den Wohnungsbau zu verbilligen, ohne die Wohnungsqualität allzu sehr zu verschlechtern. Da alle Wohnungseingänge auf einem Stockwerk am langen Laubengang lagen, konnten Treppenhäuser eingespart werden. Trotzdem war bei jeder Wohnung die Querlüftung zwischen dem Laubengang und der anderen Hausseite gewährleistet. Die Raumaufteilung war bei meist ca. 55 Quadratmetern äußerst rationell. Vom Laubengang her betrat man durch einen kleinen Windfang hindurch gleich die relativ große Wohnküche, an die sich zwei Zimmer anschlossen. Nur 12 der 133 Wohnungen im Haus hatten ein Zimmer mehr. Die Miete, zwischen 40 und 45 Reichsmark, war für damalige Neubauten ziemlich niedrig. Die ersten Mieter mussten allerdings, nach Auskunft eines früheren Bewohners, auch einen Baukostenzuschuss aufbringen, der ihnen im Laufe von etwa dreißig Jahren in kleinen Beträgen zurückgezahlt werden sollte. Gemeinschaftseinrichtungen sollten den fehlenden Komfort der Wohnungen teilweise ersetzen. Dachgarten und Sonnenbad mit Duschen und Turngeräten auf dem Flachdach, ferner Waschküche und Bäder. Aber diese Einrichtungen waren nicht nur ein Notbehelf, sondern sie begünstigten auch ein Gemeinschaftsleben, das seinerzeit anscheinend mehr gepflegt und geschätzt wurde als heute. Auch der Laubengang kam einer engen Nachbarschaftlichkeit entgegen. Im Laubengang konnten Kinder spielen, er konnte als gemeinsamer Balkon benutzt werden. Wer allerdings dies Beieinander nicht so mochte, konnte sich ihm dennoch schwer entziehen. Nach dem Kriege wurde das Laubenganghaus, von dem die Bomben kaum etwas übriggelassen hatten, so wiederhergestellt, dass es von außen kaum als Nachbau zu erkennen ist.
Fritz Schumacher, Architekt und Städtebaumeister
Lebensdaten: Fritz Schumacher wurde 1869 in Bremen geboren. Er war Hochschulprofessor für Architektur in Dresden, als er 1909 nach Hamburg berufen wurde. Ihm war zwar nur die Leitung des Hochbauwesens übertragen, aber er setzte sich auch mit wichtigen Fragen des Städtebaus und der Landesplanung auseinander. Dass Schumachers ausgreifender Tatendrang auch Rivalitäten erzeugte, war nur natürlich. Nachdem er 1919 den Kölner Wettbewerb zur Bebauung des früheren Festungsvorfelds (Innerer Rayon) gewonnen hatte, bewog Oberbürgermeister Konrad Adenauer ihn, einen Generalbebauungsplan für Köln auszuarbeiten. Schumacher ließ sich deshalb für drei Jahre von Hamburg beurlauben. 1923 trat er seinen Dienst wieder an, nun als Oberbaudirektor mit erweiterter Zuständigkeit. Die Wohnkomplexe und -viertel der 1920er Jahre trugen seine Handschrift unter dem Motto „ein Gürtel um Hamburgs alten Leib'“. 1933, nach der NS-Machtübernahme, wurde Schumacher entlassen. 1942 vertauschte er sein Haus An der Alster 39 mit einer Etagenwohnung in der Maria-Louisen-Straße. 1943, nach der Ausbombung, zog er nach Lüneburg, wo er 1947 starb.
Wirkung und Nachwirkung in Hamburg: Angesichts der Verwüstungen, die der Bombenkrieg in Hamburg angerichtet hatte, glaubte Schumacher, dass seine Arbeit größtenteils zunichte gemacht sei. Wie sehr er hierin irrte, konnte er leider nicht mehr erfahren. Die Spuren seines Wirkens sind in Hamburg so unübersehbar, wie sie es vor dem Kriege waren. Viel Beschädigtes ist instand gesetzt worden, viel Zerstörtes wiederaufgebaut worden. Schumachers faktischer Einfluss reichte noch über die Amtskompetenz hinaus. Sucht man nach einer Erklärung, so lässt sich an seinen überragen- den Sachverstand denken und an sein ungewöhnliches Geschick, in Rede und Schrift die eigenen Vorstellungen zu propagieren. Aber vielleicht können einzelne Eigenschaften seinen Einfluss überhaupt nicht hinlänglich erklären, sondern nur jenes Zusammenspiel verschiedener Eigenschaften, das man etwas hilflos Wirkung der Persönlichkeit zu nennen pflegt. Selbst ein Schumacher allerdings konnte heutzutage der baulichen Entwicklung einer Stadt nicht in dem Maß seinen Stempel aufdrücken, wie er es in den 1920er Jahren vermochte. Die komplizierter gewordenen Beratungsprozeduren und Entscheidungsmechanismen würden ihn daran hindern. Komplizierter heißt in diesem Fall zugleich: demokratischer. Leider teils wohl auch: bürokratischer.) Gewiss, Teilhabe, Mitsprache, Kontrolle sind demokratische Werte. Anderseits zeigt Schumachers Wirken in Hamburg, was der weite Gestaltungsspielraum eines Einzelnen positiv ermöglichen kann. Schumacher war ein Konservativer. Ein Konservativer, der den Problemen seiner Zeit zugewandt war, der soziales Verantwortungsbewusstsein hatte und nach Harmonie strebte. So wurde der Massenwohnungsbau (preiswert und bewohnerfreundlich) für ihn zur wichtigsten städtebaulichen Aufgabe der 20er Jahre. Als Lenker der Entwicklung trachtete er zwischen auseinandergehenden Interessen zu vermitteln und unterschiedliche architektonische Richtungen dem großen Ganzen unterzuordnen. Dem Backstein, bzw. der Backsteinverkleidung, schrieb er harmonisierende Kraft zu.
Der Architekt: Schumacher war auch als bauender Architekt kein Moderner, entschloss sich aber in den späteren 1920er Jahren in vielen Fallen zu wesentlich modernerer Gestaltung. Eine Art Stilumbruch, in einem Alter, wo andere sich zur Ruhe setzen. An den weit über hundert städtischen Bauten, die Schumacher in den neunzehn Jahren seiner Hamburger Tätigkeit entworfen hat, sind sowohl ein allmählicher Stilwandel als auch dieser Stilumbruch abzulesen. Die Notwendigkeit, an den Baukosten zu sparen war es, die Schumacher zu einer gestalterischen Vereinfachung veranlasste, mit der er sich der Neuen Sachlichkeit annäherte. Weder aber scheint Schumacher dies als Selbstverleugnung empfunden zu haben, noch wird das stilistische Gepräge dieser Bauten durch den äußerlichen Sachzwang irgendwie abgewertet. Wir zählen manche Bauten dieser Phase, wie z.B. die Schule Uferstraße, Ecke Wagnerstraße, zu den gelungensten und zeitlosesten Schöpfungen Schumachers, jedenfalls was das äußere Erscheinungsbild betrifft.
Der Kunstförderer und Schriftsteller: Wenn irgendwo, dann hat Schumachers Hang zur „Dämpfung‘ der Modernität am ehesten bei der Auswahl mitwirkender Künstler manchmal zu fragwürdigen Ergebnissen geführt. Wir denken hier insbesondere an Richard Kuöhls Plastiken an Gebäuden und im öffentlichen Raum. Zum Beispiel Relief und Schmied am Von-Elm-Hof, sowie den Rattenfängerbrunnen. War Kuöhl auch technisch-handwerklich versiert, so ist seine Kunst doch recht hausbacken, was bei ornamentalen Erzeugnissen weniger auffällt als bei figürlichen. Auch Schumachers fachliterarisches Schaffen ist nach Gehalt und Umfang, zumal als Nebenprodukt eines höchst arbeitsreichen Lebens, bewundernswert. Zu seinen wichtigsten Schriften gehört „Das Werden einer Wohnstadt“, Resümee und Rechenschaft seiner Arbeit als Städtebauer in Hamburg. Der Titel bezieht sich natürlich auf die gesamte Stadt. Wir haben uns erlaubt, ihn auf Barmbek anzuwenden.
Hundert Jahre Wohnungsbau und ein verwandelter Plan
Der älteste Mietshaustyp in Barmbek Nord waren die „Langen Jammer“. Es handelt sich um sehr einfache und langgestreckte eingeschossige Häuser, die vereinzelt ins offene Gelände gestellt wurden (z. B. am Langenfort, an der Steilshooper Strafle). 1914, beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs, war die geschlossene Bebauung vom Süden her bis zur Hellbrookstraße vorgedrungen. Erst in den 1920er Jahren wurde weitergebaut, in größerem Umfang ab 1925, als die Inflation überwunden war und die staatliche Förderung Wirkung zeigte. Während für Dulsberg 1919 ein neuer Bebauungsplan anstelle des vorher gültigen beschlossen wurde, musste die Umformung des Planes für Barmbek Nord in vielen Einzelschritten mosaikartig vollzogen werden. In vielen Einzelverhandlungen wurden die jeweiligen Bauherren und ihre Architekten bewogen, veränderte Bedingungen für ihre Bauvorhaben zu akzeptieren. So erreichte Schumacher es, dass sich die Einzelplanungen mehr oder weniger in sein Gesamtkonzept für Barmbek-Nord einschmiegten.
Vom alten Bebauungsplan unterschied sich dies Konzept vor allem in zweierlei Hinsicht. Das Häusermeer wurde nun durch mehrere Grünzüge unterbrochen. Und die Grundflächen der Häuserblocks waren so verkleinert, dass mit einer reinen Randbebauung ohne Hinterhäuser eine ausreichende Grundstücksnutzung erzielt werden konnte. Außerdem wurde die Höhe der Häuser begrenzt, und zwar abflachend‘ in Richtung der Stadtgrenze zum preußischen Bramfeld/Steilshoop hin. Barmbek-Nord wurde eine Wohnstadt. So wollte es Schumacher. Sicher, Fabriken, die mit ihren Emissionen die Menschen belästigen, gehören nicht in Wohnviertel. Aber die prinzipielle Trennung von Wohn- und Arbeitsort kann nicht, jedenfalls nicht mehr, Richtschnur der Stadtplanung sein, erzeugt sie doch zu einem gut Teil die Verkehrsströme, an denen unsere Städte zu ersticken drohen. Einige große Arbeitsstätten waren freilich schon da, als die Wohnstadt wuchs. So die Ichthyolfabrik am Suhrsweg, die 1896 vom Flachsland hierher und 1931 noch weiter hinaus verlegt wurde. Auch Ortmann und Herbst (Alte Wöhr bis 1994), die Abdeckerei (Steilshooper Strafle bis 1930), die alte Schiffsbauversuchsanstalt (Schlicksweg) und das Krankenhaus (1913 eröffnet) standen schon.
Der große Vorderhof dieses 1901/02 errichteten backsteinroten Häuserkomplexes ist das Merkmal der „Hamburger Burg“. Die „Burg“ ermöglichte Vorderfenster für alle Wohnungen bei guter Grundstücksnutzung. Der genossenschaftliche Bau- und Sparverein zu Hamburg, Bauherr auch hier, hat diese Form sozusagen eingeführt: 1899 am Stellinger Wegin Eimsbüttel (Ecke Methfesselstraße). Vor allem die „Gemeinnützigen“ wandten sie bis zum 1. Weltkrieg häufig an. Z. B. Der Konsum-, Bau- und Sparverein „Produktion“ (P R O) 1906 an der Brucknerstraße. Der Bauverein tat es 1910 beim 1943 zerstörten Block an der Pestalozzistraße gleich zweifach. Von den 228 Wohnungen hier waren 167 zweizimmrig (ohne Bad). Miete: 240-257 Mark jährlich, etwa 1/6 vom Gesamteinkommen eines Arbeiterhaushalts. Die umgebende „ungeordnete, von keiner sozialen Rücksicht gelenkte Bebauung“ verwandelte sich 1943 in eine Trümmerwüste. Die Nachtigallenstraße und teils auch die Hansdorfer sind heute Fußpfade. 1945 begann die Wiederherstellung der praktisch unbewohnbaren „Burg“.
1892 wurde der Bauverein gegründet. Die Initiative war vom Evangelisch-sozialen Arbeiter-Verein zu Hamburg (namentlich vom späteren Pastor Paul Ebert) ausgegangen. Neben Handwerkern und Arbeitern traten Bildungs- und Besitzbürger bei, wie der Gummifabrikant und spätere Senator Traun. Um der „Wühlerei“ einer sozialdemokratischen Minderheit zu begegnen, formte sich der Bauverein 1903 in eine Aktiengesellschaft um. Männer wie Traun handelten karitativ und quasi vormundschaftlich. Wenn sie eine politische Absicht verfolgten, dann mittelbar. Im Gegensatz zur „Produktion“ wollte der Bauverein die gesellschaftlichen Verhältnisse bewahren, nicht erneuern, und die Klassen versöhnen, statt die herrschende Klasse zu entmachten.
Die Kanalisierung des Eilbek begann 1854. Nach mehreren Schritten des Weiter- und Breiterbaus wurde sie 1900 mit dem Löschplatz, das heißt Entladeplatz, an der Lortzingstraße (hinter der Von-Essen-Straße) abgeschlossen. Das erste schmale und flache Stück von Wartenau bis Wagnerstraße mussten Insassen des Werk- und Armenhauses (heute Heim Oberaltenallee) ausheben.
Bis zum 2. Weltkrieg befuhren Alsterschiffe den Kanal. Nach dem Krieg wurde etwas von der ehedem verdrängten Natur zurückgeholt. Manche Uferpartien wurden freundlicher und grüner gestaltet. Auf Wandsbeker Seite hieß der Bach, der beim Dorf Siek entspringt, vor 1820 Bek oder Mühlenbek, dann erst Wandse. Wande bedeutet Grenze. An seinem gesamten Lauf trieb er bis zu 8 Mühlen. Die bekannteste war wohl die Kuhmühle, die 1874 abgebrochen wurde.
Seit dem 12./13. Jahrhundert bildete der Bach auch die Grenze zwischen dem Barmbeker und dem Eilbeker Land. Keine sehr trennende Grenze, denn das Hamburger Heiligengeisthospital hatte hier wie dort die Herrschaft erworben. In Eilbek 1247, in Barmbek zwischen vermutlich 1300 und 1365. Für das Dorf Barmbek hatte das Hospital auch die hoheitlichen Rechte erworben. Für die 3 Eilbeker Höfe blieben diese zunächst bei den Schauenburger Grafen. Nachdem das Hospital (personifiziert: die Oberalten) 1830 die Regierungsgewalt über Barmbek verloren, aber ausgedehnten Landbesitz in Eilbek behalten hatte, wurde es 1883 vom Rödingsmarkt an die Richardstraße Nummer 85 verlegt. 1901 zog auch das Marien-Magdalenen-Kloster, in Wahrheit ein Wohnstift, vom Glockengießerwall an die Richardstraße Nummer 77. Beide wurden 1943 ausgebombt und sind seit 1951/52 in Poppenbüttel vereint. Die steinerne Brücke wurde 1900 gebaut, zuletzt 1994 instand gesetzt.
Das Haus Nr. 48 ist 1882 noch in der frühen Verstädterungsphase Barmbeks entstanden. Ganz anders ist zum Beispiel das Erscheinungsbild der Etagenhäuser in der Flotowstraße. Vierspänner heißt, auf jedem Geschoss liegen 4 Wohnungen. Hier auf rechteckigem Grundriss an jeder Ecke des Hauses eine mit je ca. 40 Quadratmeter. Querlüftung, dann von den Wohnreformern gefordert, war nicht möglich.
Der Fotograf Erich Andres berichtete, am 30. Juli 1943, dem Tag nach Barmbeks Zerbombung, sei an dem Haus eine antifaschistische Parole zu lesen gewesen. Symptomatisch für den Stimmungsumschwung, den die Operation Gomorrha in Teilen der Hamburger Bevölkerung auslöste. Viele kehrten sich vom Regime ab, wurden vorübergehend gleichgültiger seinen Drohungen gegenüber. Den Spruch fotografierte Andres natürlich nicht, es wäre zu riskant gewesen. Wohl aber einige der Bewohner, die ihr Haus, so Andres, vorm Niederbrennen gerettet hatten. Nach friedensmäßiger Gewohnheit haben sie sich zum Gruppenfoto aufgestellt, in Form eines V. Auch den Anfang der Heitmannstraße bei der Hamburger Straße hat Andres fotografiert. Unter Bergen von Schutt und großen Mauerbrocken ist der Fahrdamm begraben.
An diesem 30. Juli 1943 war Frau H., die schräg gegenüber einen Brotladen betrieben hatte, schon seit einem Dreivierteljahr in Theresienstadt, im Lager. Sie war Jüdin. Ihr nichtjüdischer Mann war im Ersten Weltkrieg gefallen. Kein Grund, die Deportation aufzuschieben, wie im Falle noch bestehender so genannter Mischehen. Frau H. hatte Glück, sie erlebte die Befreiung und traf mit einem Rücktransport an der Finkenau ein. Der Brotladen in der Hausnummer 43, zerstört wie die meisten Hauser rundum, war in der Parterrewohnung eingerichtet.
Wenn wir Leben als etwas Reges, sich Entfaltendes, Pulsierendes verstehen, dann war der Straßenzug Hamburger Straße / Markt bis zum Ende der 30er Jahre Barmbeks Lebensader. Seit dem Mittelalter städteverbindender Verkehrsweg, seit den 1870er Jahren Ausstrahlungsachse der Verstädterung, seit den 1890er Jahren Geschäfts- und Einkaufsstraße, seit den 1920er Jahren gar mit einem weltstädtischen Anflug. — Und heute?
Die Landstraße
Der Straßenzug Hamburger Straße / Markt war Jahrhunderte hindurch Teil einer Landstraße von Hamburg nach Lübeck. Wer nach Norden Richtung Bramfeld weiterwollte, musste den Osterbekbach durch eine Furt passieren. Erst 1836 wurde dort im Auftrag der Hamburger Landherrenschaft eine solide Fahrbrücke errichtet. Die Landstraße wird die Barmbeker ständig in losen Kontakt mit der Welt jenseits ihrer Feldergrenzen gebracht haben. Am Südbarmbeker Teil der Straße siedelten sich im 19. Jahrhundert in größerer Zahl Gastwirte, andere Gewerbetreibende und Handwerker an.
Die Nahverkehrsroute
Ab 1841 gab es eine Personenbeförderung im Linienverkehr zwischen Hamburg und Barmbek-Markt. Die Pferdeomnibusse fuhren selbstverständlich durch die sogenannte Hauptstraße (ab 1862 amtlich Hamburger Straße). 1867 wurden die Pferdeomnibusse durch die Pferdeeisenbahn abgelöst, und ab 1895 wurden die Straßenbahnen elektrisch angetrieben. Die Straßenbahn behielt – neben S- und U-Bahn – ihre Bedeutung als Massenverkehrsmittel in Hamburg bis nach dem Zweiten Weltkrieg. Die nebenstehende Skizze zeigt das Barmbeker Straßenbahnnetz Ende der 30er Jahre. Durch die Hamburger Straße fuhren vier (plus zwei) Linien, d. h. in beiden Richtungen alle paar Minuten eine Bahn.
Der Wandel der Hamburger Straße
Ganz am Anfang der Verstädterung, um 1870, war die Bebauung entlang der Hamburger Straße überwiegend recht einfacher Art, sie war lückenhaft, zusammengewürfelt und niedrig. In den folgenden Jahrzehnten wurde abgerissen und neu gebaut: meist vier- bis fünfgeschossige Mietshäuser, die im Erdgeschoß gewöhnlich gewerblich genutzt wurden und des öfteren auch im ersten Stock. 1914, vorm Ausbruch des Ersten Weltkriegs, waren nicht nur die Lücken geschlossen, sondern auch von der frühen Bebauung nur noch wenige Reste übriggeblieben. In dem Male, in dem die Bevölkerung in Barmbek-Süd und im damals noch bis zur Bachstraße reichenden Uhlenhorst zugenommen hatte, hatten sich die Ladengeschäfte in der Hamburger Straße vermehrt. Schon in den 1890er Jahren war sie eine städtische Einkaufsstraße geworden.
In den 20er Jahren wurde an der Hamburger Straße weiter erneuert und modernisiert, wenn auch in geringerem Umfang. Der Bau des neuen Karstadt-Warenhauses 1928 wirkte wie ein Signal. Nach dem Empfinden nicht nur der Barmbeker hatte die Hamburger Straße mit diesem hochmodernen „Konsumtempel“ endgültig den Rang einer großstädtischen Haupteinkaufsstrafle erreicht. (Eine der attraktivsten in Hamburg sei sie gewesen, gleich nach der Mönckebergstraße, schrieb ein alter Barmbeker im „Wochenblatt‘.) Eine Straße voller Leben war sie: „’Viele Leute gingen am Abend dort noch spazieren und sahen sich die Schaufenster an.“
Der Verkehr – von Fußgängern, Karrenschiebern, Radfahrern, Pferdefuhrwerken, Straßenbahnen und Automobilen – war zwar insgesamt schwächer als heute, aber vielfältiger und bunter. Nach der Kriegszerstörung wurde entlang der Hamburger Straß verspätet und insgesamt wenig planvoll neu aufgebaut. Das Straßenbild ist sehr uneinheitlich und unansehnlich, und verglichen mit den 20er, 30er Jahren, ist die Hamburger Straße heute – sieht man vom Autoverkehr und vom Einkaufszentrum ab – regelrecht verödet.
Früher – heute: von 290 zu 76
Was es heißt, dass die Hamburger Strafe eine Haupteinkaufsstraße war, lässt sich anhand der Zahlen klarmachen. Nach dem Adressbuch von 1938 haben wir, ziemlich gleichmäßig über die ganze Länge verteilt, rund 290 Ladengeschäfte und Gastwirtschaften gezählt. (Dabei haben wir in der Regel nur Erdgeschoßlage und ausnahmslos Hausnummern der Hamburger Straße berücksichtigt.) In fast 80 dieser Geschäfte wurden Lebensmittel und für den Magen bestimmte Genussmittel verkauft (Gastwirtschaften hier nicht mitgezählt). Heute (Ende 1994) bestehen an der Straße 76 Ladengeschäfte und Gastwirtschaften. (Dabei sind vom Einkaufszentrum Außenfront Parterre und – anders als 1938 – die Oberaltenallee mitgerechnet.) Auch dieses Zahlenverhältnis erklärt, warum heute weniger „Leben“ in der Hamburger Straße ist.
Der Vorstadtcharme des Markts
Dem Markt bekam die Verstädterung weniger gut als der Hamburger Straße. Von den 1870er Jahren bis nach der Jahrhundertwende war der Markt eine eher beschauliche, noch halb ländliche Vorstadtstraße. Auf den um 1900 entstandenen Fotos wirkt er freundlich, gepflegt, mit baumbestandener Promenade in der Mitte und niedriger Bebauung an den Seiten, die vereinzelt sogar aus dem 18. Jahrhundert oder noch älterer Zeit stammte. Liebevoll beschrieben hat den Markt der 1870er Jahre Michaelis-Pastor Schwieger, der dort einen Teil seiner Kindheit verlebte. 1816 wurde auf dem Markt erstmals Jahrmarkt abgehalten, ab 1825 regelmäßig zweimal im Jahr, später dann wohl nur noch einmal jährlich. Der Brauch wurde bis in die 1890er Jahre beibehalten und lebte dann – kriegsbedingt – noch einmal Anfang der 40er Jahre für kurze Zeit auf. Der 1910/11 errichtete Hochbahnviadukt veränderte den Markt von Grund auf. Die Mittelpromenade verschwand, und das neue Bauwerk zerschnitt die Straße der Länge nach. Auch am Markt begannen nun vier- und fünfgeschossige Häuser die niedrige Altbebauung zu verdrängen, und bald wirkten die Überbleibsel aus vorstädtischer Zeit – nach den Fotos aus den 20er und 30er Jahren zu urteilen – weniger idyllisch als deplaziert. Zum Schaufensterbummel lud der Markt sehr wahrscheinlich auch in der Zwischenkriegszeit nicht ein. Immerhin konnte man damals unter dem Hochbahnviadukt, dem „Barmbeker Regenschirm“, noch entlanggehen; Verkaufsstände konnten darunter aufgeschlagen werden. Heute sind da die Tauben mit ihrem Dreck allein.
Die Straße war gerade erst hergerichtet worden, als 1909/10 die meisten Häuser an dem Abschnitt bis Imstedt gebaut wurden. Es sind fast durch gehend Dreispänner, das heißt Häuser mit 3 Wohnungen pro Geschoss. Als Zeugnis jener Zeit ist die vollständig erhaltene Reihe an der Ostseite heute eine Seltenheit im alten Barmbek Süd, das an der Bachstraße endete. Luftkrieg und Wiederaufbau haben den Stadtteil verwandelt. Auch die Südseite des Flotowstraßenstücks ist nicht verschont geblieben (Hausnummern 11 bis 15 und Nummer 19). Trotzdem können wir uns hier in der Phantasie leicht um viele Jahrzehnte zurückversetzen. Freilich müssen wir uns die parkenden Autos weg- und zahlreiche kleine Läden und Verkaufsräume hinzudenken.
Repräsentativ für ganz Barmbek Süd und den angrenzenden Streifen Uhlenhorsts war die Flotowstraße allerdings nicht. Wer sich zur Herderstraße hin im Quartier umschaut, wo es noch manche Reste der Kaiserzeit-Bebauung gibt, wird sich davon überzeugen können. Die Flotowstraße wirkt schon durch ihre Breite großzügiger als etwa Bachstraße und Humboldtstraße. Die Fassaden sind vergleichsweise ansehnlich. In den tieferen Häusern an der Westseite, zum Sportplatz hin, waren die Wohnungen größer geschnitten als in den Häusern an der Ostseite, zur nahen Framheinstraße hin. Diese Straße ist mitsamt ihrer Bebauung auf dieser Höhe verschwunden. Auf beiden Seiten aber wohnten nur sehr wenige Arbeiter. Ganz anders als in der Humboldtstraße, vor allem ihren Terrassen.
Dass die Lücke der Hausnummer 13 nicht wieder geschlossen wurde, ergab sich aus dem Grünzüge-Konzept der Nachkriegszeit. Typisch für die 1950er Jahre sind die Zeilenbauten, die sich nach Osten bis zum Biedermannplatz hin anschließen.
Seit Anfang des Jahrhunderts gab es in der Hamburger Straße ein Kaufhaus: bei der heutigen Adolph-Schonfelder-Straße. 1927/28 wurde „Heilbuth“ abgerissen und durch den hochmodernen Karstadt-Bau ersetzt. Karstadt war von dichter Wohnbebauung umgeben: lichtarme Höfe, kaum Grünflächen, viele Menschen auf engem Raum. Der Bombenkrieg hinterließ von Karstadt und den meisten umstehenden Häusern nur Trümmer und Ruinenreste. Freie Bahn insofern für die Stadtplaner! Die neue Wohnbebauung zum Alten Schützenhof hin, überwiegend Ende der 50er Jahre entstanden, hat zumindest einen Vorzug gegenüber der alten: sie ist wesentlich aufgelockerter.
Konkurrenz für die Ladeninhaber
Heilbuth rühmte sich seiner niedrigen Preise. Vielleicht waren sie auch deshalb so niedrig, weil die Personalkosten unbarmherzig gedrückt wurden. Jedenfalls scheint die schlechte Bezahlung der Verkäuferinnen – auch in anderen Hamburger Warenhäusern – fast sprichwörtlich gewesen zu sein. Die kursierenden Angaben (Monatslöhne noch unter dem durchschnittlichen Wochenlohn eines Arbeiters) können allerdings höchstens für einen Teil des Personals zutreffen.
Für viele Ladenbesitzer mag Heilbuth – und erst recht später Karstadt – eine bedrohliche Konkurrenz gewesen sein. Dennoch haben sich in und neben der Hamburger Straße kleine Geschäfte in großer Zahl behauptet. Dass die von Heilbuth ausgehende Gefährdung in der Barmbeker Bevölkerung ein Gesprächsthema war, lässt folgender Bericht eines Polizeispitzels aus dem Jahr 1903 vermuten: „Von 9.15 – 10 Uhr wurde die Wirtschaft von Michel, Hamburgerstraße 162, besucht. Daselbst waren einige Arbeiter anwesend, die sich unterhielten. Ein Arbeiter sagte: „Man muss sich wundern, dass bei den vielen Warenhäusern, die zur Zeit schon in Hamburg existieren, immer noch neue Warenhäuser gebaut werden. Den Bau, den Heilbuth in die Hamburgerstraße gesetzt hat, übertrifft an Größe alle bisher ausgeführten Warenhäuser. Dass auf einem so großen Geschäft aber noch viel größere Lasten ruhen, ist doch sicher und darf man gespannt sein, wie Heilbuth sich in diesem Geschäft schadlos halten will. Für die Barmbeker Geschäftswelt ist das Heilbuthsche Warenhaus der Nagel zum Sarg, denn bekanntlich sind es gerade die kleinen Leute, welche ihre Einkäufe in den Warenhäusern decken und am allerersten von den kleinen Geschäftsleuten (abspringen).’“
Der Glanzpunkt der Hamburger Straße
Karstadt mit seiner auffälligen Architektur, seinen 32 Schaufenstern und fast 250 Metern Straßenfront, seinem Dachgarten, der eleganten Innenausstattung und den 1928 noch ungewöhnlichen Rolltreppen war eine Attraktion. Eine Attraktion für Schaulustige und Käufer, die wohl aus großem Umkreis kamen, also auch aus Hohenfelde, Eilbek, Uhlenhorst, Winterhude. Eine Attraktion nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Kinder. Die anschließend wiedergegebenen Erinnerungen können für viele ähnliche stehen. (Bestätigt werden sie durch eine Studie der Psychologin Martha Muchow, die 1932 „Spielorte“ Barmbeker Kinder beobachtete, darunter auch Karstadt.)
Zitat 1: „Das Hineinkommen in das Kaufhaus war für Kinder nicht einfach. Vor dem Eingang stand ein uniformierter Portier und ließ Kinder ohne Erwachsene nicht in das Haus.Wir fragten deshalb immer Frauen, ob sie uns mit hineinnehmen würden – fast alle machten es.“
Zitat 2: „Dieses phantastische neue Ding – Rolltreppe … War echt Spitze, nur raufstellen und schon ging es auf- oder abwärts. War jedenfalls problemloser als Fahrstuhlfahren. Da war immer so einer in Uniform, der auch die einzelnen Stockwerke und ihre Abteilungen runterleierte; ich hab mich oft gefragt, ob der zu Hause auch so leierig spricht, den ganzen Tag von 8 – 19 Uhr Fahrstuhl rauf und runter und jedes Stockwerk das gleiche: Hosen, Trikotagen … USW. USW. … Endlich konnte er mal etwas Amtliches loslassen: Seid ihr alleine? Manchmal hatten wir Glück und konnten unsere kleine Hand irgendeiner netten ‚Tante‘ in die ihre schieben, dann war die Sache gelaufen … Vom Dachgarten ließen wir gerne selbstgemachte Papierschlangen runtersegeln.“
Zitat 3: „Wenn in den Schaufenstern bewegliche Märchenbilder gezeigt wurden, drückten wir uns oft die Nasen an den Scheiben platt. Viele Wünsche hatten wir – erfüllt wurden sie selten, und so blieben ein Roller oder ein Fahrrad oft nur Träume.“ (Leserzuschriften ans Barmbeker Wochenblatt)
Das Nachkriegs-Wohnquartier „hinter“ dem Einkaufszentrum
Das heutige Wohnquartier zwischen Bostelreihe und Mozartstraße/Imstedt weist Merkmale auf die typisch sind für den Neuaufbau der 50er Jahre. (Barmbek-Nord dagegen ist größtenteils so wiedererstanden, wie es vor der Zerbombung war.) In „Hamburg und seine Bauten“ (Erscheinungsjahr 1968) wird der Neuaufbau folgendermaßen charakterisiert: „In der ersten Phase der Stadtbaugestaltung (in Hamburg), dem Aufbau zerstörter Stadtgebiete, knüpfte man an die in den 20er Jahren entwickelten Prinzipien modernen Wohnungsbaues an, bei dem hygienische Forderungen – also insbesondere eine einwandfreie Besonnung und Durchlüftung – als Reaktion auf den Wohnungsbau der Gründerzeit im Vordergrund standen. Auf den vorgegebenen Baublöcken entstanden anstelle der geschlossenen Bebauung Zeilen in der wirtschaftlichen viergeschossigen Bauweise mit der traditionellen roten Ziegelverblendung. Man reservierte dabei mehr Platz für die Folgeeinrichtungen und gliederte die großen Quartiere durch öffentliche Grünzüge.“
Auf den Stadtteil bezogen hatte Ortsamtsleiter Plothe 1956 erklärt: „Der Aufbau in Barmbek-Süd … kann sich nicht so einfach wie in (Barmbek-Nord und Dulsberg) vollziehen. Die früher hier bestandenen Schlitzbauten und Hinterhöfe (Terrassen) dürfen nicht wieder erstehen. Eine Auflockerung … unter Bevorzugung des Zeilenbaus muss erfolgen. Daraus wird sich häufig die Zusammenlegung mehrerer Grundstücke als notwendig erweisen. Ein langsameres Voranschreiten des Wiederaufbaus hier ist daher verständlich.“
Das (Un-)Gesicht der Hamburger Straße heute
Dass der Aufbau an der Hamburger Straße selbst sich so lange verzögern würde, hatte wahrscheinlich auch Ortsamtsleiter Plothe nicht gedacht. 1970 wurde das Einkaufszentrum mit seinen Aufbauten fertiggestellt (nach Plänen von Hoffmann, H. und K. Kruse). 1972 folgten zwei der drei „Mundsburg-Türme'“ (entworfen von Garten, Kahl und Bargholz). Vom Geländestreifen zwischen Hamburger Straße und Oberaltenallee verschwanden die letzten Gebäude; er wurde zur – leider unbetretbaren – Grünfläche.
Ist es gut geworden, was so lange gewährt hat? Die Meinungen mögen geteilt sein. Wir meinen: nein. Die Hamburger Straße im ganzen hat kein „Gesicht“. Vor dem Kriege war sie voller Leben:
„Voller Leben, voller Verkehr! Aber irgendwie anders als heute. Bunter, lebhafter, geschäftiger. Straßenbahnen, einige Linien, die bimmelnd versuchten, sich Platz zu machen, Autos, so viele verschiedene Typen, wirklich verschiedene, heute sind es doch Uniformen. Aber damals! Wirklich!“ Heute fehlt dem Straßenraum jede gut proportionierte Einfassung. Eigentlich ist er nur das Bett des Verkehrsstroms, der auch am aufgetürmten Riff des Einkaufszentrums beziehungslos vorbeizufließen scheint. Gewiß, das Einkaufszentrum für sich genommen ist attraktiv, ähnlich wie seinerzeit Karstadt. Die Renovierung 1986/87 hat zwar kaum das Äußere, aber die Passage erheblich verschönert (gläsernes Tonnengewölbe von M. v. Gerkan, V. Marg und Partnern). Aber die Straße? Draußen Ödnis, drinnen Glamour: kann dies das Ziel der Stadtgestaltung sein?
1862 war der Schützenhof hier auf freiem Gelände eröffnet worden. In den 1890er Jahren – nun schon halb von Mietshäusern umgeben – waren die Schießstände eine Belästigung und eine Gefahr für die Anwohner. Darum die Verlegung zur Bramfelder Grenze. Hochst nützlich war die Folgeeinrichtung: das Bartholomäusbad mit der Bücherhalle. Denn wer hatte schon ein Bad in der Wohnung und wer konnte sich gediegenen Lesestoff kaufen? – Selber die Literatur „bereichert“ hat der legendäre “Lord von Barmbeck“, Hamburgs Einbrecherkönig um 1920. – Ecke Bartholomäusstraße hatte er sich vorübergehend als Wirt versucht.
Nachdem 1898 ein unbeteiligter Arbeiter von Nagel & Kaemp tödlich getroffen worden war, wurde die Benutzung 1900 endgültig eingestellt. Der neue Schützenhof wurde an der Bramfelder Straße beim Grenzbach (heute: Seebek) angelegt, wo heute die Schiffsbauversuchsanstalt ist. Auf dem alten Gelände blieb nur das Restaurant stehen (der vorderste Gebäudeteil im Bild). Luftbild um 1930. In der Mitte das Bartholomäusbad (in dem übrigens auch ein Standesamt eingerichtet war). Der baumbestandene Gelädndestreifen, der sich zur linken Bildecke hinunterzieht, gehörte vordem zum Schützenhof. Schräg über der Badeanstalt der Sportplatz des SV Uhlenhorst-Herta.
Sportvereine
Die Geschichte des Vereins geht bis ins Jahr 1911 zurück (Gründung des Uhlenhorster Fußball Klubs). Auf dem Platz an der damaligen Diederichstraße spielten natürlich auch andere Vereine Fußball (und Schlagball!). So z.B. der Uhlenhorster Sport-Club Paloma, der 1909 in dem Kellerlokal Humboldtstraße 123 (noch vorhanden) „aus der Taufe gehoben“ wurde. „Herta“ ist seit 1991 mit dem SC Adler vereinigt, nun unter dem Namen SV Uhlenhorst-Adler. „Adler“ (von 1925) war ein Arbeitersportverein. Die Arbeitersportbewegung war bis 1933 völlig von der bürgerlichen Sportbewegung getrennt. Andere bekannte Barmbeker Arbeitersportvereine waren „Hamburg 93″ (heute VFL 93) und der Kraftsportverein BKSV (heute „Goliath“), wo der in Fachkreisen unvergessene Amandus Spitzkopf boxte. Nach dem vom NS-Regime verhängten Verbot ’33 gingen viele Barmbeker Arbeitersportler zu „Paloma“. Nach dem Kriege wurde die – zuerst erzwungene – Einheit der deutschen Sportbewegung beibehalten.
In puncto Hygiene entwicklungsbedürftig
… war Barmbek wie die meisten ärmeren Viertel in den großen Städten (zumal den Industriestädten) bis in unser Jahrhundert hinein. In Barmbek hatten 1890 4,2 Prozent der Wohnungen und 1910 auch erst 14,8 Prozent ein Bad (in Hohenfelde dreimal soviel). Immerhin war in Hamburg seit 1882 bei Neubauten ein separates Wasserklosett für jede Wohnung vorgeschrieben. Lindley, der Konstrukteur des Wasserwerks und der Kanalisation in Hamburg, hatte in den 1850er Jahren eine offentliche Badeanstalt für 50.000 Einwohner gefordert. Dementsprechend hätten es in den 1890er Jahren zwölf sein müssen, vorhanden waren drei. Viele Menschen nahmen den Schmutz von der Arbeit mit nach Haus und konnten sich auch dort nicht gründlich von ihm befreien.Üble hygienische Verhältnisse begünstigten die Ausbreitung von Seuchen. Robert Koch wird nachgesagt, er habe bei der Choleraepidemie ’92, als er das Gängeviertel besichtigte, ausgerufen: „Meine Herren, ich vergesse, dass ich in Europa bin.“ (Hauptgrund der Epidemie war die Verunreinigung des Trinkwassers. Der Senat hatte die Erstellung einer Sandfilteranlage verschleppt.) Der Bau des Bartholomäusbades mit seinen zwei Schwimmbhallen, 30 Brause- und 77 Wannenbädern befriedigte also ein unabweisbares Bedürfnis. Und bald war das „Badlo“, wie die Barmbeker salopp sagten, ein Stück Barmbek geworden. Nach schweren Bombenschäden konnte die große Schwimmhalle (vorher Frauenhalle) schon kurz nach dem Kriege wieder benutzbar gemacht werden, nun für beide Geschlechter. 1956 war auch die kleine wiederhergestellt, die 1969 zur reinen Sportschwimmbhalle wurde. — Im Mittelteil ist das Gebäude gegenüber früher erheblich verändert.
Geistige Nahrung für Barmbek
Mitglieder der Patriotischen Gesellschaft gründeten 1898 die Stiftung Hamburger Bücherhallen. Die Bücherhallen sollten „breiten Volksschichten … guten, einwandfreien Lesestoff zugänglich machen und dadurch veredelnd und fordernd auf die Leser wirken“. Die 1909 im ersten Stock des Bartholomäusbads eröffnete Bücherhalle war die vierte in Hamburg. 12.600 Bände standen für die Lesehungrigen bereit. Der Bestand stieg auf 30.000 Bände 1918 und sank wieder bis auf weit unter 20.000 Bände in den 30er Jahren. So ging auch die Zahl der Entleihungen zurück: 1916 waren es 450.000, 1936 nur 103.000. Vielgelesene Bücher zerschlissen bald, und seit dem Krieg fehlte es wahrscheinlich an Geld für nötige Nachkäufe. Auf Vergleichsbasis lässt sich für 1916 eine Leserzahl von vielleicht 10.000 annehmen. Das waren freilich bei schätzungsweise 150.000 Bewohnern im Einzugsbereich nicht sehr viele. Aber wiederum gar nicht so wenige, wenn man bedenkt, dass die Barmbeker durch häusliche und schulische Bildung wohl in relativ geringem Maße auf anspruchsvolle Lektüre eingestimmt wurden. Die männlichen Leser überwogen, und von ihnen waren 1938 beachtliche 65,4 Prozent Arbeiter, Handwerker und Lehrlinge. Insofern also wurde die Barmbeker Bücherhalle ihrer Bestimmung als Volksbibliothek gerecht. In der belletristischen Abteilung waren neben Klassikern der Weltliteratur neuere Autoren und gehobene Unterhaltungsliteratur vertreten. Selbstverständlich waren auch Kinder- und Jugendbücher aufgenommen. (Nach welchen Kriterien mögen die Bücher angeschafft worden sein? Inwieweit mögen die Kriterien ideologisch-politisch beeinflusst gewesen sein? — Interessante, doch für uns offene Fragen.)
Im Juli ’43 wurde die Bücherhalle durch Bomben zerstört. Im Mai ’49 lehnten die Wasserwerke eine etwaige Rückkehr der Bücherei ab: der erste Stock werde für die Wiederherstellung der Dienstwohnungen gebraucht, die sich früher im zweiten Stock befunden hatten. An den Wiederausbau des zweiten Stocks war zu dem Zeitpunkt nicht zu denken. Schon 1950 aber hatte Barmbek wieder eine Bücherhalle, und zwar am Reyesweg. 1958 dann wurde – in der Mitte Barmbeks – die Bücherhalle Poppenhusenstraße eröffnet. Julie Hansen, von 1919 bis ’43 Leiterin der Barmbeker Bücherhalle, schrieb nach dem Kriege: „(Durch) den geringen Wechsel in Leitung und Personal entstand allmählich ein schönes Vertrauensverhältnis. In Barmbek waren von 1909 bis 1943 ganze Generationen ständige Besucher: Großeltern, Eltern und Kinder wurden unsere guten Freunde und teilten mit uns alle Freuden und Kümmernisse. … Es sei hier einmal darauf hingewiesen, dass die Büchereiarbeit mit der gelernten Arbeiterschaft ganz besonders erfreulich und dankbar ist. Mit großem Ernst arbeiten sie sich in ihre Interessengebiete hinein, und wenn sie erst Vertrauen gefasst haben, ergibt sich ein schönes verständnisvolles Zusammenarbeiten. Eine Arbeiterin besprach mit mir immer ihr Programm für ihren Arbeiterinnenverein, und ein intelligenter Arbeiter schrieb mir: „Ich habe Sie 2 Jahre lang beobachtet und glaube jetzt, dass Sie mir auch helfen und raten können.“
Der Lord von Barmbeck
Auf der schiefen Bahn
Adolf Petersen, dem anscheinend das Hamburger Fremdenblatt diesen Titel anhängte, stammte aus armseligen Verhältnissen. Als Dreizehnjiähriger zog er 1896 mit seinen Eltern in die Heitmannstraße. Im selben Jahr begann er seine kriminelle „Laufbahn“. Er hatte bereits eine mehrjährige Haftstrafe hinter sich, als er Wirt in der Kellerkneipe hier schräg gegenüber wurde. (Nach 1904, Genaueres ist nicht zu ermitteln.) In der Kneipe verkehrten Einbrecher, die Petersen Gelegenheit gaben, seine „Ausbildung“ zu verbessern, speziell als Geldschrankknacker. In Petersens Kaschemme (ein Lieblingsausdruck von ihm) werden manche Raubzüge geplant und vorbereitet worden sein. Nach einigen Jahren hängte Petersen das Wirtsgewerbe an den Nagel, fortan lebte er nur vom Verbrechen. Im Krieg wurde er, weil als Berufsverbrecher angesehen, 1916/17 für ein Jahr interniert. Wahrscheinlich aus demselben Grunde wurde er nicht eingezogen.
Große Karriere
Nach der Entlassung schwang sich Petersen zum Anführer einer grofferen Aktionsgemeinschaft auf, „Barmbecker Einbrechergesellschaft“ oder“Petersen-Konzern“genannt. Insgesamt gehörten siebzig teils fester, teils loser mit Petersen verbundene Männer dazu. Ein Großteil war in Barmbek zu Hause, und die“Gesellschaft“ hatte zwei ihrer wichtigsten Treffpunkte in Barmbek. Nach einer erneuten Freiheitsstrafe 1919/20 setzte Petersen zu einem aufsehenerregenden, wenn auch kurzen Höhenflug an. Bis Mitte ’21 erbeutete er mit seinen Leuten neben wertvollem Gut rund 800.000 Mark Bargeld. Im Juni ’21 kam Petersen für lange Zeit hinter Schloss und Riegel. Die Sonderkommission der Polizei verfügte über keine Geständnisse, verstand es aber, die gleichzeitig verhafteten „Gesellschaftsmitglieder“ – samt Chef – gegeneinander auszuspielen und einem nach dem Geständnisse zu entlocken.
Barmbeker Unterwelt
Trotz großer Beute lebten Petersen und seine engsten Kumpane während ihrer Erfolgsjahre keineswegs in Saus und Braus. Aber großzügiger war ihr Lebensstil schon, als ein legaler Broterwerb ihresgleichen ermöglicht hätte. Die meisten legten Wert auf gepflegte Kleidung, und ganz besonders tat das Petersen selbst. Auch daher rührt sein „Ehrentitel“. Petersen und der engere Kreis arbeiteten nicht nur gemeinsam, sondern hatten auch familiären Umgang miteinander: eine Subkultur im Kleinen. In mancher Hinsicht unterschieden sich ihre Umgangsformen und Schicklichkeitsbegriffe überraschenderweise gar nicht allzusehr von denen der bürgerlichen Gesellschaft. Ob Petersen und die Seinen sich wie Fische im Wasser in einem weit mehr Menschen einschließenden Milieu bewegten, ob es in Barmbek größere Bevölkerungsteile mit einer Anfälligkeit für kriminelle Abwege gab, das ist sehr schwer zu beurteilen. Gewiss, im Krieg kam es 1916 und ’17 bei sogenannten Hungerunruhen in Barmbek zu Ladenplünderungen, und dann vielleicht noch einmal im Krisenjahr ’23, als die Geldentwertung viele Menschen in bitterste Not stürzte. Aber aus solchen Ausnahmesituationen können weitreichende Schlüsse kaum gezogen werden.
Dichtung und Wahrheit
Petersen war den anderen wohl weniger durch seine „handwerklichen“ Fertigkeiten überlegen als durch Umsicht, Mut und Weitblick. Mit Hilfe seines Bruders in Amerika z. B. bewerkstelligte er schon eine Geldwäsche. Seine Beuteanteile waren mit Abstand die höchsten, und er verwendete sein Geld für legale und halblegale Geschäfte. So kaufte er seiner Freundin eine Pension in den Colonnaden. Vielleicht stand er kurz davor, wohlversorgt in eine bürgerliche Existenz überzuwechseln. Petersens noch heute lebendiges populäres Image des edlen, robinhoodhaften Ganoven ist fern der Wirklichkeit. Weder mied er konsequent lebensgefährdende Gewaltanwendung, noch war er immer fair seinen Kumpanen gegenüber, noch war er ein Wohltäter der Armen. Auch in seinen 1927 geschriebenen Memoiren (veröffentlicht 1973) mischen sich Dichtung und Wahrheit. Obwohl der Text von Klischees des Kolportageromans nur so strotzt, ist ein gewisses erzählerisches Talent unverkennbar. 1932 kam Adolf Petersen wieder frei. 1933 abermals festgenommen, erhängte er sich am 22. November im Untersuchungsgefängnis. (Angelehnt an eine Anfang ’95 noch unveröffentlichte Untersuchung Patrick Wagners.)
Alte Barmbeker sagen häufig: Was die Fuhlsbüttler Straße heute ist, als Barmbeks Einkaufsstraße, war die Hamburger Stra9e damals, vor dem Krieg. Mit nackten Zahlen lässt sich diese Aussage nicht ohne weiteres erhärten. In der Hamburger Straße gab es 1938 rund 290 Läden (plus Gastwirtschaften). In der Fuhlsbüttler Straße zwischen Pestalozzi- und Dennerstraße (gleich der Länge der Hamburger Straße) waren es rund 240. Kein großer Abstand!
Auffällig ist allerdings die erheblich höhere Zahl von Möbelgeschäften, Gastwirtschaften sowie Bank- und Sparkassenfilialen in der Hamburger Straße. Andrerseits erreichten die Lebensmittelgeschäfte in der Fuhlsbüttler Straße einen Anteil von ca. 37 Prozent, in der Hamburger Straße nur einen Anteil von ca. 27 Prozent. Geldangelegenheiten erledigen, einkehren, Anschaffungen „fürs Leben“ machen, das alles konnte man also besser in der Hamburger Straße.
Das Angebot in der Fuhlsbüttler Straße konnte mehr der Versorgung mit Gütern des Alltagsbedarfs entgegengekommen sein. Käufer und Schaulustige wurden zudem natürlich durch die drei Kaufhäuser in der Hamburger Straße angezogen (Karstadt, „Niederelbische“ (ab ’36, vorher „PRO“) und Toedt — Woolworth um die Ecke in der Bartholomäusstraße nicht mitgerechnet).
Nicht zu unterschätzen ist schließlich die Wirkung der Tradition: die Hamburger Straße war 1938 schon seit bald fünfzig Jahren „eine Einkaufsstraße, die Fuhlsbüttler Straße gerade einmal seit einem Dut-zend Jahren. – So lassen sich wohl die Eindrücke erklären, die kurzerhand im Begriff „die Einkaufsstraße“ zusammengefasst werden.
Karrenmarkt in Barmbek
Seit 1911 die Märkte vom Meßberg und vom Hopfenmarkt beim Deichtor zusammengelegt waren, hatte Hamburg nur noch diesen einen Wochenmarkt, der hauptsächlich Großmarkt war. Aber schon in den 1890er Jahren war der Karrenhandel in Hamburg stark verbreitet: Ambulante Kleinhändler verkauften ihre Ware von den Karren herunter, die meist mit Menschenkraft bewegt wurden. Im August 1894 beklagten sich zwei Uhlenhorster: „Gegen Abend in der Herderstraße standen nicht weniger als zehn Karrenhändler fast alle auf einem Haufen und riefen ihr Waren dort aus. Infolgedessen hatte sich eine Unmenge Kinder angesammelt, so dass man annehmen konnte, es finde Markt statt. Bei diesem immerwährenden Ausschreien konnte man verrückt werden, namentlich in den Terrassen. Kaum ist der eine raus, fängt der andere an … die reine Landplage.“
Wahrscheinlich schon vor dem Ersten Weltkrieg, spätestens aber in den 20er Jahren war der sogenannte Barmbeker Ring zu einer Institution geworden. Das war eine lange Reihe von Karren (angeblich an die dreihundert), die jeden Werktag um das Karree Wohldorfer Straße, Hamburger Straße, Volksdorfer Straße, Vogelweide herum standen. Für bestimmte Branchen des Ladenhandels – zumal Obst und Gemüse – bedeutete der Karrenmarkt natürlich eine harte Konkurrenz.
Von der Hand in den Mund
Das Warenangebot in der Hamburger Straße war vielfältig und sicher auch verlockend. Aber wer von der Hand in den Mund lebte, konnte meist nur das Nötigste kaufen und manchmal selbst das nicht. In Barmbek-Süd wohnten arme Leute. Nehmen wir das Jahr 1910: Da lag Barmbek (und das war bevölkerungsmäßig der Süden) mit seinem Pro-Kopf-Einkommen unter allen Hamburger Stadtteilen an vorletzter Stelle (nur noch gefolgt vom Billwerder Ausschlag). Die Harvestehuder hatten den fast neunmal so hohen Spitzenwert, das verdeutlicht die gesellschaftliche Kluft.
Die Not der Haushaltsführung unter solch dürftigen Umständen drückte natürlich vor allem die Frauen. Sie mussten mit dem wenigen Geld so einzukaufen versuchen, dass die Familie satt wurde. Sie mussten immerfort „knapsen“ und oft genug bei den Kaufleuten anschreiben lassen, bisweilen vielleicht ohne zu wissen, wann die Schuld beglichen werden konnte.
Die Bürde der Frauen
Was verlangte der Haushalt den Barmbekerinnen ab, in der Zwischenkriegszeit und erst recht in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg? Die Familien waren größer als heute, elektrische Geräte und Zentralheizung waren nicht bzw. fast nicht vorhanden, gekocht wurde meist bzw. oft noch auf dem Herdfeuer, Kleidungsstücke wurden – wieder und wieder – geflickt und gestopft. (Soviel nur, um die Phantasie der Leser anzuregen.) Gleichwohl mussten viele Frauen außerdem noch einer Lohnarbeit nachgehen. Im Jahr 1910 z.B. waren 25 Prozent aller Erwerbstätigen in Barmbek Frauen. Dabei sind Gelegenheitsarbeiten nicht berücksichtigt, somit zum Teil auch nicht die schlechtbezahlte Heimarbeit, wie sie beispielsweise manche Barmbekerinnen für die Bürstenmacherei Schröder (gegründet 1866) verrichteten. (Da wurden die paar „Mußestunden“ nach dem Abendbrot mit Borsteneinziehen ausgefüllt.)
Als Menschen wegsaniert werden sollten
Dass große Gebiete Barmbek-Süds baulich saniert wurden, war durch den Bombenkrieg erzwungen. Zuvor schon war in der NS-Zeit empfohlen worden, das ganze Quartier zwischen Winterhuder Weg und Weidestraße zu sanieren. Auf perverse Weise freilich, wie nationalsozialistische Ideologie es verlangte. Nicht beengende, ungesunde Baukörper sollten saniert werden, sondern für „krank“ gehaltene Teile des „Gesellschaftskörpers“ sollten wegsaniert werden.
A. Walther, ein Soziologe der Hamburger Universität, wollte unter „wissenschaftlichen“ Gesichtspunkten die „gemeinschädlichsten“ und deshalb vordringlich sanierungsbedürftigen Hamburger Stadtgebiete bestimmen. Hervorstechend gute Wahlergebnisse von SPD und KPD nahm Walther als ersten Verdachtsgrund. Zu finden gedachte er eine „Zusammenhäufung von politisch destruktiver Haltung, jugendlicher Gefährdung, hoffnungsloser Lebensuntüchtigkeit, intellektueller und psychopathischer Minderwertigkeit und vielen Arten asozialen und kriminellen Verhaltens.“
1934/35 untersuchte eine Projektgruppe, die aus arbeitslosen Akademikern gebildet worden war, ausgewählte Gebiete. Finanziert war das Projekt, das von Walther und zwei anderen Fachleuten geleitet wurde, als eine Art Arbeitsbeschaffungsmaßnahme (‚“Notarbeit 51“). Auch das Quartier zwischen Hamburger Strafße und Herderstraße, Winterhuder Weg und Weidestraße war Gegenstand der Studie. Der „Gemeinschädlichkeitskern“ wurde um Humboldt- und Bachstraße ausgemacht.
Tod im Schutzraum
Der Luftangriff in der Nacht vom 29. zum 30. Juli 1943 verwüstete Barmbek wie kein anderer davor und danach. Auch das Karstadt-Gebäude stürzte in sich zusammen. Viele Menschen hatten in den beiden Kellern Zuflucht gesucht. Aus dem sogenannten Personalbunker wurden etwa 1.200 Menschen gerettet. Die im sogenannten öffentlichen Luftschutzraum Verschütteten starben, und zwar an Kohlenoxydvergiftung, verursacht durch einen brennenden Koksvorrat. Etwa 370 Leichen wurden aus dem Keller geborgen (viele nicht identifizierbar). Das war etwa ein Drittel der Todesopfer, die bei den Julibombardements in ganz Barmbek zu beklagen waren.
Wie eine riesige Kulisse
Die stehengebliebene Rückwand des Karstadtgebäudes war eine der markantesten Ruinen in Hamburg. Manche sahen in ihr wohl ein Wahrzeichen der Zermalmung. Dem Maler und Grafiker Alexander Friedrich erschien sie wie eine riesige Theaterkulisse: „Von den vier Wänden des stadtübergipfelnden Hauses steht nur die Rückwand, nicht Dach, nicht Zwischengeschoß; nicht ein Schein der verschwundenen anderen drei Betonwände ist zu erblicken! … Das Gerücht über diesen Karstadtkeller in Barmbek und die Zahl der darin umgekommenen Menschen geistert in der Stadt, eine ungriffig schillernde Chimäre. … Die Fahrstuhlschächte mit ihren mancherlei Eisendrahtzügen und die quadratischen Einteilungen von Nebenräumen wurden nur flüchtig angedeutet. Es ist das alles etwas verzeichnet und absichtlich ungeschickt gemalt, aber man erkennt doch, was der Theatermaler gemeint hat, und man bewundert die ungeheuren Ausmaße des Bühnenraumes.“ (Geschrieben 1943.)
Ein Wohlfahrtsunterstützte im Jahr 1932
Erst nach dem Ende des Kaiserreichs wurde eine gesetzliche Arbeitslosenunterstützung und -versicherung eingeführt. Zuvor war Arbeitslosigkeit eine immer gefürchtete Existenzbedrohung (im buchstäblichen Sinne). Aber auch nach dem Weltkrieg in den Zeiten der Massenarbeitslosigkeit Anfang der 20er und Anfang der 30er Jahre kamen die Menschen in Not, trotz aller Vorkehrungen von Staat und Gemeinden. Die Hilfsmittel der öffentlichen Hand waren in heute kaum vorstellbarem Grade erschöpft, und die Not der Arbeitslosen war weitaus krasser als heute.
Von seiner Wohlfahrtsunterstützung (gleich heutiger Sozialhilfe) konnte sich März 1932 ein alleinstehender Erwerbsloser in Hamburg, z. B. an Lebensmitteln kaufen: pro Woche 3 kg Brot, 5 kg Kartoffeln, 1/2 kg Margarine, 1/2 kg Fleisch, Fleischwaren oder Fisch, 750 g Reis, Mehl o. Hülsenfriichte, 250 g Zucker, 250 g Kornkaffee und 1 Liter Milch. Dann blieben 5 Mark für die Miete (was nur im Glücksfall für eine Wohnung reichte), 50 Pfennig für Kochgas, Feuerung und Licht (viel zu knapp), 1 Mark schließlich für alles übrige (Anschaffungen, Bahnfahrten, Briefmarken usw. – ein Witz).
Wie nehmen Sie den Bahnhof wahr? Als Fahrgastumschlagplatz, gesichtslos? In den ersten zehn Jahren hatte er ein stattliches Eingangsgebäude wie manch andere S- und Hochbahnhöfe. Als er nach der Jahrhundertwende gebaut wurde, war Barmbek-Nord noch kaum erschlossen. Schon nach 20 Jahren erlangte er eine Bedeutung als Verkehrsknotenpunkt, die mit seiner heutigen vergleichbar ist. Die Entwicklung Barmbeks zum Wohn- und Industriegebiet war mit der Schaffung von Verkehrsanschlüssen verbunden, die den Ort näher an die Stadt Hamburg rückten. Zunächst fanden viele Barmbeker und Barmbekerinnen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft Arbeit (z.B. bei Calmon/Tretorn, Conrad Scholtz, der „New-York Hamburger“, dem Gaswerk). Doch wuchs die Zahl derjenigen, die weit entfernt von ihren Arbeitsplätzen wohnten, so dass sie lange Strecken zu Fuß zur Arbeit gehen mussten, solange bezahlbare Nahverkehrsmittel fehlten.
Pferdebus und Pferdebahn
Die Verkehrsanbindung begann mit dem Pferdeomnibus. Vom Frühjahr 1841 an betrieb das Fuhrunternehmen F.E. Schultz & Kroger eine Linie vom Speersort zum Barmbeker Markt (beim heutigen Bahnhof Dehnhaide). Maximal 16 Personen konnten mit dem Pferdeomnibus befördert werden. Die relativ hohen Fahrpreise und die spärliche Besiedlung Barmbeks machten es zunächst schwer, die Wagen zu füllen und das Geschäft rentabel zu betreiben. In den Anfangsjahren gab es daher nur wenige Fahrten täglich. Seit 1860 verkehrte der Bus aufgrund des starken Ausflugsverkehrs an Sonntagen stündlich (später auch werktags). Die Beförderungsplätze, die ein Pferdeomnibus bot, konnten nicht beliebig vermehrt werden. Der Pferdeomnibus wurde daher bald von der Pferdebahn abgelöst, deren Wagen auf Schienen liefen, wodurch sich erheblich höhere Gewichte von Pferden ziehen ließen. Ab Juni 1867 verkehrte die Barmbeker Bahn zwischen Rathausmarkt und „Zoll“ (bei der Brücke Bramfelder Straße) zweimal stündlich.
Straßenbahn und Stadtbahn
Auch die Pferdebahn konnte den ständig wachsenden Verkehrserfordernissen nicht nach- kommen. 1886 überstieg die Zahl der mit der Barmbeker Pferdebahn jährlich beförderten Personen die Millionengrenze. 1895 wurde die Barmbeker Linie (St. Pauli – Barmbek Zoll) auf elektrischen Betrieb umgestellt. In den folgenden Jahren wurde das Straßenbahnnetz in Barmbek weiter ausgebaut. In der Hamburger Stral3e fuhren Anfang des Jahrhunderts (1904) fünf Straßenbahnlinien, alle zwei Minuten kam eine Bahn. Vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges fuhren nach Barmbek und Uhlenhorst zehn Straßenbahnlinien, in der Regel jede im 10-Minuten-Takt. Die Pferdebahn und zunächst auch die Straßenbahn waren damals jedoch noch keine Massenverkehrsmittel im heutigen Sinne. Nur Verdiener mittlerer und höherer Einkommen konnten sich die regelmäßige Benutzung der Bahn leisten, die Mehrzahl der Arbeiter/innen nicht. Der Preis für eine Pferdebahnfahrt lag bei mehr als einem Zehntel des durchschnittlichen Tageslohns eines Arbeiters. Viele, die in den Vororten wie Barmbek wohnten und in der Innenstadt oder im Hafen arbeiteten, mussten „gut zu Fuß“ sein. Mit Vorortbahn und Hochbahn hofften die politisch Verantwortlichen in der Stadt endlich effiziente Nahverkehrsanbindungen für die Werktätigen zu erstellen. Nebenbei hofften sie damit auch etwas zur sozialen Befriedung beizutragen. Der Bahnhof Barmbek wurde gleich als Umsteigestation der Vorortbahn (später Stadtbahn genannt) und der Hochbahn gebaut. 1906 wurde die Vorortbahnstrecke Blankenese – Ohlsdorf in Betrieb genommen. Zunächst verkehrten nur Dampfzüge, ab 1907/08 fuhr die Bahn im elektrischen Betrieb mit Oberleitung im 5-Minuten-Takt.
Hochbahnring und Walddörferbahn
Parallel zum Bau der Stadt- und Vorortbahn wurde der Bau der Hochbahn (heutige U-Bahn) mit einer Ringstrecke und den Zweiglinien nach Ohlsdorf, Eimsbüttel und Rothenburgsort in An- griff genommen. Nach der festlichen Eröffnung gab es zwei Wochen lang Freifahrten, um das Publikum von den Vorzügen der „neumodischen“ Bahn zu überzeugen. Der reguläre Betrieb der Ringzüge, die tagsüber im 5-Minuten-Takt und sonst alle 10 Minuten verkehrten, wurde von der „Hamburger Hochbahn Aktiengesellschaft“ (HHA) im März 1912 aufgenommen. Eine Fahrt bis zur fünften Haltestelle kostete zehn Pfennig. Die Hamburger fuhren damals 2. und 3. Klasse (2. Klasse: gepolstert, rote Wagen, 3. Klasse: Holzbänke, gelbe Wagen). Nach harten Auseinandersetzungen wurde 1919/20 das Zwei-Klassen- System aufgehoben. Um eine direkte Verkehrsverbindung zwischen der Stadt und dem Hamburger Umland im Nordosten, insbesondere den Walddörfern, herzustellen, wurde eine weitere von Barmbek ausgehende Bahnlinie geplant. Durch den Weltkrieg verzögert, war erst 1919 Betriebsbeginn, zunächst mit Dampfloks. Um Raum für die neue Strecke zu schaffen, war das Eingangsgebäude des Barmbeker Bahnhofs bereits 1916 abgerissen worden.
Wiederaufbau und Veränderung des Nahverkehrssystems
Die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg, namentlich im Sommer 1943, hatten dem Hamburger Nahverkehrsnetz schwere Schäden zugefügt. Die meisten Barmbeker Straßenbahnlinien konnten jahrelang nicht befahren werden. Auch der Hochbahnverkehr war lange unterbrochen. Erst 1950 wurde der Ring wieder geschlossen. Wie Barmbek in den 50er Jahren als Wohnstadt wiedererstand, so wurde auch sein Nahverkehrsnetz wieder zu alter Leistungsfähigkeit gebracht. In den 60er Jahren dann eine Neuerung: Die Straßenbahnen wurden in Hamburg durch Busse ersetzt. Als letzte Barmbeker Linien wurden im Mai 1965 die 6 und die 9 stillgelegt. Die im selben Jahr fertig gewordene „Omnibus-Umsteige-Anlage“ Barmbek war eine Konsequenz der Umstellung. Der Barmbeker Bahnhof bekam einen neuen Ausgang. 1986 modernisierten Hochbahn und Bundesbahn die westliche Eingangshalle. Schalter und Sperren verschwanden, neue Läden und Stände wurden eingerichtet.
Dorothea und Adolphine Keitel begründeten per Testament 1901 die Stiftung, die 1905 das Gebäude hier errichten ließ. Das Grundstück, einen ehemaligen Katnerhof, stellte die Stadt zur Verfügung. Die 50 mietfreien Wohnungen waren „armen, unbescholtenen, mindestens 45 Jahre alten Mädchen“ aus dem „Handwerker- und Dienstbotenstande“ vorbehalten. Die Aufnahmebedingungen wurden später gelockert. Nach der gültigen Satzung sollen „vorwiegend Frauen und Witwen“ als Mieter aufgenommen werden. Ein §5-Schein jedenfalls ist Voraussetzung.
Manche Barmbeker empfanden das Äußere, gemessen an der Umgebung, wohl als pompös. Daher die Bezeichnung „Schloss von Barmbek“. Der Turm ist heute verkürzt, einige Balkonbrüstungen sind „zugemauert“: Kriegsfolgen. Das Dachgeschoss ist 1953 ausgebaut worden. Abriss und Neubau wurden erwogen, bevor 1977 Wohnungen zusammengelegt und Küchen und Duschbäder eingebaut wurden. Wie die Mehrzahl öffentlicher und genossenschaftlicher Bauten hat das Keitelstift die Bombardierungen besser als durchschnittliche Mietshäuser überstanden. Es lag auch an der solideren Bauweise.
Die kleinen Häuser auf der anderen Straßenseite sind Zeugen der frühen Verstädterungsphase Barmbeks. Sie sind 1885/86 gebaut, wahrscheinlich alle vom Barmbeker Maurermeister Grupe (siehe Stellbergterrain). Durch Bombenschaden und Wiederaufbau sind sie mehr oder weniger verunstaltet. Die meisten kehrten der Straße einen Giebel zu. Nur bei der Nummer 55 sind davon im Jahr 2003 noch Umrisse zu erkennen. Die Häuschen gehörten z. T. Handwerksmeistern. So die Nummer 55 seit 1920 dem Schuhmacher Ude (gestorben 1986). Ude war ein Stadtteiloriginal und rühmte sich, Hamburgs ältester praktizierender Handwerksmeister zu sein.
Wären Hamburger in den 20er Jahren gefragt worden, welcher Ausdruck ihnen zu Barmbek einfalle, hatten die meisten sicher geantwortet: „basch“. „Barmbeck basch“ war ein geläufiger Begriff schon seit dem vorigen Jahrhundert. Auf Mittelniederdeutsch bedeutet „basch’’ in etwa stark, scharf, kräftig von Geschmack; übertragen: eifrig, heftig, trotzig, stolz. – Was von Nicht-Barmbekern als Schimpf gemeint war, deuteten die Barmbeker ins Positive um: Für sie hieß „basch“ auch forsch, kess, gewitzt. Er stempelte Barmbek zum unfeinen, zum Unterschichtviertel. Aber oft schwang doch wohl die Vorstellung mit, dass dort Leute wohnten, die „sich nicht unterkriegen“ ließen. – Bedeutete „Barmbeck basch“ etwas Ähnliches wie im alten Berlin „Zilles Milljoh?“ Vielleicht, ja.
Wohnverhältnisse
Die Wohnverhältnisse in Barmbek-Süd ließen vom Beginn der Verstädterung bis zur Zerbombung ’43 viel zu wünschen übrig. Weithin mangelte es an Grundqualitäten, die von Wohnreformern schon vor dem Ersten Weltkrieg gefordert wurden und dann in den Neubauten der 20er Jahre – in Barmbek-Nord und Dulsberg z. B. – Standard wurden. Der freie Zutritt von Licht und Luft wurde durch die dichte Bebauung behindert, in den 20er Jahren dagegen durch Zeilenbauweise oder reine Randbebauung der Karrees gewährleistet. Ein anderer Punkt: die „Querlüftung‘, die Durchlüftung der Wohnungen von vorn nach hinten. Sie war oft nicht möglich, weil drei oder vier Wohnungen auf einem Stockwerk lagen. (Freilich gab es Viertel in Hamburg, wo die Verhältnisse noch schlechter waren. Der Anteil der Hinterhauswohnungen – wenn auch kein eindeutiges Gütemerkmal – war z. B. in einigen Stadtteilen etwa doppelt so hoch; in Barmbek lag er 1910 bei 15 Prozent.)
Gaststätten
Seit der frühen Bebauung gab es Gaststätten entlang der Hamburger Strafße. Bis Anfang der 1890er Jahre hatten einige den Charakter von Ausflugslokalen. In den folgenden Jahrzehnten kamen sogenannte Gesellschaftshäuser einem Bedürfnis der Stadtteilbewohnerschaft entgegen. Ihr großer Saal konnte für ganz verschiedenartige Veranstaltungen genutzt werden, vom Tanzvergnügen über politische Versammlungen bis zu Turnübungen. In der Hamburger Straße bestanden wenigstens zwei dieser Gesellschaftshäuser, sie verschwanden in der Zwischenkriegszeit. Das am Markt Ecke Stückenstralle Anfang der 1870er Jahre gegründete „Barmbeker Gesellschaftshaus‘ (auch dem Namen nach erstes am Platze) erhielt sich – später als Café Classen – bis zur Zerbombung 1943. Dem Zeitgeschmack in den 30er Jahren entsprachen vor allem die Tanzcafés (mit Live-Musik), am Markt bei der Dehnhaide z. B. das Café Columbus und in der Fuhlsbüttler Straße beim Wiesendamm das Café König.
Im Verhältnis zur Bevölkerungszahl war die Zahl der Gaststätten in Barmbek um die Jahrhundertwende gar nicht so sehr groß. Von insgesamt rund 180 im Jahr 1906 kam eine auf rund 400 Einwohner. (In Berlin war es 1898 eine auf 135 Einwohner.) Die allermeisten dieser Gaststätten waren natürlich einfache Kneipen: für die Arbeiter damals unentbehrliche Orte der Begegnung, des Gesprächs, des Meinungsaustauschs, und zwar gerade auch des politischen Meinungsaustauschs. In den kleinen, überbelegten Wohnungen konnten sie nicht zusammensitzen. Nicht wenige Kneipen waren auch Versammlungslokale und Beitragszahlstellen für die örtlichen Mitgliedergruppen der SPD. Ihrer politischen Funktion wegen wurden Hamburger Kneipen zum „Arbeitsfeld’ der sogenannten Vigilanzbeamten. (Vigilanz = Wachsamkeit, Überwachung.)
Die „Vigilanz“ der Hamburger Polizei
Nach der Cholera 1892 begann die politische Abteilung der Hamburger Polizei auszukundschaften, was das Volk wohl „Unrechtes“ denke. (In gleicher Absicht wie die Stasi, nur mit weit geringerem Aufwand.) Zuvor waren nur öffentliche Versammlungen beobachtet worden. Die bei der Epidemie zutage getretenen Versäumnisse und Missstände der Hamburger Verwaltung einerseits und die (zumindest zahlenmäßige) Stärke der hiesigen Sozialdemokratie anderseits: das waren gewichtige Gründe für die Regierenden der Stadt, Unruhen und „Umtriebe“ zu fürchten, ja in letzter Konsequenz einen Umsturz der bestehenden Herrschaftsverhältnisse. Die Vigilanz sollte verborgene Gefahren erkennen helfen. Gewöhnlich war nur eine Handvoll Polizisten im Einsatz. In sechzehn ausgewählten Stadtbezirken mischten sie sich als Arbeiter verkleidet unter die Leute, um die Stimmung zu erkunden und Hin-weise auf etwaige „Machenschaften“ aufzuspüren. Mit Vorliebe suchten sie Kneipen auf. Was sie Erwähnenswertes gehört hatten, schrieben sie dann in ihre Berichte. (Heute sind sie eine Fundgrube für Historiker, die die Auffassungen und Lebensumstände der Arbeiterschaft erforschen wollen. Auch für Barmbekforscher sind sie ergiebig, denn das Gebiet um die Hamburger Straße war einer der sechzehn Bezirke. Eine Auswahl der Berichte ist unter dem Titel „Kneipengespräche im Kaiserreich“ 1989 als Taschenbuch erschienen. Verwertbare Schlüsse wurden aus all den Berichten nicht gezogen. Deshalb wurde die regelmäßige Spitzelei ab 1905 vernachlässigt und 1910 eingestellt.
Das 1994 eröffnete Hauptfilialhaus der Haspa wurde von B. Tonon entworfen. Zusammen mit Th. Brenner hat Tonon auch das 1987 fertiggestellte Eckgebäude am Suhrsweg geplant. Im Gegensatz zu den „Backsteintapeten“ vieler Gebäude aus den 1980er und 1990er Jahren ist der Backstein in diesen beiden Fällen „Bauweise“ geworden, das heißt stilprägend im Sinne von Fritz Schumacher. Barmbeks Stadtbild wurde so um zwei markante Bauwerke bereichert worden. Die weithin sichtbare Glasfront öffnet den Baukörper wie ein Schnitt und kontrastiert mit seiner steinernen Massigkeit. Der in Stufen ansteigende hintere Teil und der mit geschwungenen Flanken sich breit machende vordere Teil scheinen gegeneinander zu drängen. Anders der Bau am Suhrsweg, an dem vor allem gerahmt wird, wie er sich einerseits den Backsteinfronten aus den 1920ern, anderseits der etwa ebenso alten Putzfront angleicht. Bemerkenswerter noch scheint uns, wie er die Verbindung schafft: mit beschwingt-großzügiger „Geste“. Ein Wort noch zum Stein. Hier hat er etwas Traditionelles, Handgemachtes, dort ist er von quasi kunstgewerblicher Feinheit, gepaart mit betontem Fugenmuster. Auch nachdem die an den Haspa-Bau in Fuhlsbüttlerstraße und Hufnerstraße anschließenden Lücken mit Etagenhäusern gefüllt sind, sind die Kriegsfolgen im nahen Umkreis noch immer nicht ganz getilgt. Das wird deutlich sichtbar an der Ecke Fuhlsbüttlerstraße und Hellbrookstraße mit ihrer provisorischen Bebauung. An der Ecke Hufnerstraße wurde anstelle des zerstörten Etagenhauses das Roxy-Kino errichtet, in dem jetzt ein Aldi-Markt eingerichtet ist. Eine höhere Bebauung wird kommen.
Der sogenannte Stellberg war eine kleine Erhebung samt Windmühle bei der heutigen Kreuzung Fuhlsbüttlerstraße und Drosselstraße. Nach ihm wurde in den 1890er Jahren die Flache zwischen Fuhlsbüttlerstraße und Steilshooper Straße, Pestalozzistraße und Hellbrookstraße benannt. Schmale Felder erstreckten sich hier in nördlicher Richtung. Einige gehörten noch Bauernfamilien. Nur an der Steilshooper Straße stand schon eine Reihe kleiner Häuser, die der Maurermeister Grupe gebaut hatte (siehe Langer Jammer). Für die Erschließung als Bauland war diese Streifenstruktur denkbar ungeeignet. Durch ein Zusammenlegen und Neuaufteilen der Grundstücke wäre das zu andern gewesen. Einerseits war die Zeit vorbei, in der Private drauflos planen konnten. Anderseits wurde jetzt der Bebauungsplan für Barmbek vorbereitet, so dass die Umlegung samt Erschließung mit der Stadt ausgehandelt werden konnte. Die Grundeigentümer traten als „Interessenschaft“ auf. Ihr Wunsch wurde der Stadt 1895 ausgerechnet vom Eigentümer des kleinsten Grundstücks vorgetragen, über das aber ohne Eingriff in Bausubstanz die Drosselstraße geführt werden konnte. 1898 wurden die Verträge mit der Stadt geschlossen. Sie betrafen insbesondere die Ver- und Entsorgungsanschlüsse und die Wegpflege. Nun wurden die Straßen angelegt: Drosselstraße, Stellbergstraße und Schwalbenstraße. Nach und nach wurden die neu zugeschnittenen Grundstücke parzelliert. Da die Kanalisation erst 1904 angelegt wurde, durfte zunächst nur niedrig gebaut werden. Ab 1900 bauten nicht mehr die anfänglichen Grundeigentümer, sondern Bauunternehmer. Sie bauten reihenweise und im gleichen Muster Häuschen, die nach Fertigstellung verkauft wurden. Endeigentümer waren zum Beispiel Handwerksmeister oder Beamte.
An der Ecke gegenüber (Habichtstraße 62) stand bis 2008 ein Überbleibsel des Habichthofs. Es war das Hochparterre des bombengeschädigten Wohnhauses. Heute steht dort das B&B Hotel. 1890 hatte die Bauernfamilie Dreckmann ihren Hof vom Dorfplatz in der Hufnerstraße hierher ins offene Gelände verlegt. Nur 32 Jahre später musste sie die Landwirtschaft in Barmbek einstellen, weil die Verstädterung sie eingeholt hatte und ihr in der Notzeit nach dem Krieg die Feldfrüchte vom Acker weg gestohlen wurden. 1890 bauten die Dreckmanns kein Bauernhaus mehr, sondern neben Wirtschaftsgebäuden ein villenartiges Wohnhaus. Darin manifestierten sich gewachsener Wohlstand und ein anderes Lebensgefühl. Die Dreckmanns festigten ihren Wohlstand. Sie verkauften nicht wie die andern Bauernfamilien fast alles Land an Private oder die Stadt. Sie errichteten selber Mietshäuser auf vielen ihrer über die einstige Dorfmark verstreuten Grundstücke. Fünf der Kinder des letzten Bauern bewirtschafteten später eigene Höfe. 2005 brachte die Geschichtswerkstadt Barmbek das Büchlein Leben auf dem Habichthof heraus.
Der alte „Vorbau“ der Techniker Krankenkasse hier ist das unter Denkmalschutz stehende frühere Entree der Margarinefabrik Voss. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts (mit Erfindung der Fetthartung 1902) fand Margarine als Butterersatz rasch wachsenden Absatz. Voss, 1904 in der Humboldtstraße gegründet, verlagerte den Betrieb 1909 an die Bramfelder Straße.1925/26 Erweiterung. 1943 brannten die meisten Gebäude aus. Bis 1952 war der Wiederaufbau vollendet. 1978/79 wurde der Betrieb eingestellt. Viele erinnern sich noch an die Voss-Tierbilder, die in Alben geklebt werden konnten. Der Voss-Überrest, dessen Erhalt ein Kompromiss war, weist in sich eine Stildissonanz auf. Der eigentliche Eingangsbau mit seinen „expressionistischen“, das heißt kantigen und spitzigen Formen, stammt aus den 1920er Jahren. Die zinnenbesetzten Mauern dahinter gehörten zur alten Fabrik.
Hinter der Margarinefabrik, am Bach Seebek, stand von 1903 bis zur Zerbombung 1943 der neue Hamburger Schützenhof. In Barmbek Süd erinnert ein Straßennahme an dessen Lage. Heute befindet sich dort die Schiffbauversuchsanstalt.
Die Bebauung am Habichtsweg mit ihren Putzfassaden ist untypisch für das Barmbek-Nord der „Schumacher- Ära“. Es waren die Backsteinblocks, die dem Stadtteil sein Gesicht gaben. Die Backsteinhaut trug wesentlich zu der gleichmäßigen Gesamtwirkung bei, die die Hamburger Wohnquartiere aus den 20er Jahren kennzeichnet. So großräumig-einheitliche Viertel wurden damals in keiner anderen deutschen Stadt gebaut.
Die ästhetische Funktion des Backsteins
Seit Schumacher nach Hamburg gekommen war, hatte er eine Vorliebe für Backsteinbau. Im Backstein glaubte er norddeutsche Bautradition mit Modernität versöhnen zu können. Solch ein Ausgleich schien ihm erstrebenswert. Gleich in den ersten Hamburger Jahren ließ er alle Stadtpark-Bauwerke in Backstein ausführen. In den 20er Jahren kam Schumachers Vorliebe für den Backstein in den neu entstehenden Wohnvierteln voll zur Geltung. Nun schrieb er dem Backstein vor allem eine vereinheitlichende Kraft zu, Zitat: „Es liegt eben im Wesen einer gesunden Behandlung des Backsteins, dass er aus sich selbst heraus zu verwandtem Ausdruck führt, mit anderen Worten, dass er nicht nur äußerlich verbindendes Baumaterial bleibt, sondern unwillkürlich eine verbindende Bauweise wird.“ Daneben blieb ihm die ausgleichende Wirkung nach wie vor wichtig, Zitat „Er dämpft alle neuartigen Wirkungen durch einen leisen Einschlag von Überlieferung, der sich aus dem Wesen seiner Struktur ergibt.“ Schumacher hat sicher recht mit seiner Behauptung, manche Hamburger Backsteinblocks würden mit Putzfassaden wesentlich moderner (im damaligen Sinne) wirken. Schumacher plädierte und warb für die Backsteinverkleidung, aber er brauchte sie in der Regel gar nicht vorzuschreiben, weil die führenden Hamburger Architekten, die in den neu entstehenden Vierteln bauten, in der Mehrzahl den Backstein genauso schätzten wie er selber. Die Backsteinfassaden der 20er Jahre unterscheiden sich sehr von den Backsteinfassaden der Nachkriegsjahrzehnte. Nach dem Kriege: ein Stein wie der andere, die Wände wirken tot. In den 20ern: Steine mit unzähligen Unregelmäßigkeiten, in der Form, in der Farbe (zwischen rot und bläulich changierend), in der Oberflächenbeschaffenheit (rau/glatt, stumpf/anglasiert) – die Wände haben Leben, selbst ohne dekorative Elemente. Schumacher bemühte sich selber darum, dass solche „unregelmäßigen“ Steine produziert und verwendet wurden.
Heute werden Fassaden wieder öfter mit unregelmäßigen Backsteinen verkleidet, so zum Beispiel am Haus der Haspa Ecke Hufner-/Fuhlsbüttler Straße. Wirkungsvoll belebt wurden die meisten Fassaden zudem durch die Sprossenfenster. Leider hat man sie in den Nachkriegsjahrzehnten nicht selten entfernt. Schumacher versprach sich von der planvoll-vereinheitlichenden Gestaltung ganzer Quartiere eine heilsame Gemütswirkung: „Wesentlich ist (auch) der Versuch, diesen neuen Bauquartieren eine gewisse äußere Harmonie zu geben. Für den gehetzten Menschen unserer Zeit dürfte auch darin ein Stück Hygiene liegen, Hygiene der Nerven.“ Heute wird die Einheitlichkeit der Backsteinquartiere unterschiedlich empfunden. Die einen empfinden sie in Schumachers Sinne als wohltuende Harmonie. Andere aber – gerade auch viele Jüngere – empfinden sie als monoton, trotz aller Abwechslung in den Blockformen und trotz aller Verlebendigung im Detail. Wer freilich den Backsteinfronten Putzfassaden aus der Kaiserzeit vorzieht, womöglich mit konfektionsmäßigem Palais-Zierrat, folgt einer auch recht anfechtbaren Geschmacksrichtung, bei der sicherlich Nostalgie im Spiel ist (meinen wir).
Schumachers Lenkungsinstrumente
Um den Backstein zum Standard zu machen, bedurfte es wohl keines Druckes. Ansonsten aber brauchte Schumacher eine Handhabe, um bei der Gestaltung eines neuen Viertels seine Vorstellungen annähernd zu verwirklichen. Die Beleihungskasse bot ihm die Handhabe. Faktisch war es wohl so, dass die Kasse Baudarlehen nicht ohne Schumachers Zustimmung zu den Entwürfen vergab. Das praktische Verfahren, mit dem sich Schumacher sein „Zustimmungsrecht“ zunutze machte, nannte er „modellmäßiges Bauen“. In Plastilinmodellen, die jeweils großen Ausschnitten eines Viertels entsprachen, ließ Schumacher darstellen, was er anstrebte. Die Modelle zeigten keine Einzelheiten, sondern nur die Formen der Blocks (der Baukörper). Wahrscheinlich wurde vor den Modellen mit den jeweiligen Bauherren und deren Architekten nach einvernehmlichen Lösungen gesucht. Erwogene oder diskutierte Varianten konnten sogleich versuchsweise einmodelliert werden, so dass die Auswirkung aufs Ensemble gemeinsam begutachtet werden konnte.
Dies Verfahren scheint höchsteffektiv gewesen zu sein und hat tatsächlich Viertel wie „aus einem Guß“ entstehen lassen. Funktionieren konnte das Verfahren allerdings auch nur, weil nicht mit einer Vielzahl „kleiner“ Bauherren zu verhandeln war, sondern mit relativ wenigen „großen“. Wie diese Grundbesitzstruktur (große Flächen in der Hand weniger Bauherren) sich zum Beispiel in Barmbek-Nord herausgebildet hat, wäre noch zu untersuchen. Jedenfalls dürfte sie auch Voraussetzung für die Abwandlung des alten Bebauungsplans gewesen sein. Auch diese musste in Verhandlungen mit den einzelnen Bauherren erreicht werden. Immer nach dem Prinzip: gleiche Grundstücksausnutzung bei verändertem Grundriss und geringerer Bauhöhe. Auch hierbei kann die Darlehensvergabe die Rolle eines möglichen Druckmittels gespielt haben, das die Bauherren einigungsbereiter machte. Es ist gut vorstellbar, dass Durchgestaltung der Quartiere und Umwandlung des Bebauungsplans ineinandergriffen, also bei jedem größeren Objekt in einem Zuge ausgehandelt wurden.
Auffällig sind an Karl Schneiders 1927/28 gebautem Doppelblock vor allem die gerundeten weißen Balkone zum Habichtsplatz hin. Zeitgenossen sahen in dem Block mit seiner fotogenen Ecke anscheinend ein markantvorbildliches Beispiel des modernen Wohnungsbaus in Hamburg. Wiederholt wurde Schneiders Bau in programmatischem Zusammenhang abgebildet. In Fachkreisen wurde der Doppelblock vor allem deshalb gelobt, weil Schneider auf ungünstig geschnittenem Grundstück eine phantasievolle und abwechslungsreiche Komposition der Baukörper geglückt war: mit unregeläßigen, zum „Angelpunkt“ hin offenen Höfen und betont symmetrisch gestaltetem „Tor-Vorhof“. Dass der Block von sozialdemokratischer Seite benutzt wurde, um die Wohnungsbaupolitik zu illustrieren, hatte noch einen zusätzlichen Grund. Bauherr war die Kleinwohnungsbaugesellschaft Groß-Hamburg, auf die manche Sozialdemokraten und Gewerkschafter besondere Hoffnungen setzten.
Karl Schneider: Ein Meister der Moderne
Karl Schneider, 1892 in Mainz geboren, legte 1911 an der dortigen Kunstgewerbeschule sein Examen ab. Er arbeitete danach bei verschiedenen Architekten, eine Zeitlang auch bei Gropius in Berlin. 1920 heiratete er, zog nach Hamburg und richtete sich hier ein eigenes Büro ein. Bis Ende der 20er Jahre baute er viele Gebäude unterschiedlicher Zweckbestimmung (hauptsächlich in Hamburg), die ihm internationales Ansehen eintrugen. 1926 gewann er den Wettbewerb für die Jarrestadt und baute auch das zentrale Karree, musste allerdings eine Veränderung seines Entwurfs hinnehmen. 1930 wurde er Professor an der Landeskunstschule: bei dem jähen Rückgang der Bautätigkeit eine sehr erwünschte Existenzsicherung.
Als Exponent eines auffallend modernen (und internationalen) Stils hatte Schneider auch Gegner. Nach der nationalsozialistischen Machtübernahme 1933 betrieben die Nationalsozialisten erfolgreich seine Entlassung. 1938 wanderte Schneider in die USA aus, wo er als Industriedesi-gner arbeitete. Bauen durfte er nicht, weil er nicht in die US-amerikanische Standesorganisation aufgenommen war. Anfang 1945 endlich erlangte er die Zulassung als Architekt. Im August starb er. Erst Jahrzehnte später wurde Schneider die Anerkennung zuteil, die er verdient. Die Hamburger Ausstellung 1992 stellte seine Bedeutung auch einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen. Auf dem Plakat war die „balkonbewehrte“ Ecke des Habichtsplatzblocks abgebildet. Leider sind die meisten Bauten Karl Schneiders zerstört oder – bald mehr, bald weniger – entstellt. Schumacher und Schneider, das waren Gegensätze. Schumacher: ein Mann der Traditionsanklänge, auf Harmonie bedacht. Schneider: ein entschiedener Neuerer, aber auch fähig, sich einzufügen. Wie Schneider über die Zusammenarbeit mit Schumacher gedacht hat, wissen wir nicht. Schumacher sagte 1931, es sei für ihn als verantwortlichen Städtebauer zwar nicht immer bequem, eine so starke künstlerische Individualität gegenüber zu haben, aber das Gesicht der Stadt erhalte dadurch lebendige Züge. Es waren Worte aus der Eröffnungsrede, die Schumacher bei Schneiders erster Ausstellung hielt. Sie fand im von Schneider umgebauten Kunstvereinsgebäude statt.
Die Ehrenteit-Gesellschaften
1926 wurde ein für Hamburg neuer Typus der Wohnungsbaugesellschaften geschaffen. Er verband sich mit dem Namen John Ehrenteits. Ehrenteit war Gewerkschaftsvorsitzender (ADGB) in Hamburg und 1929 bis 1933 Senator. Was Ehrenteit eigentlich wollte, war wohl ein gewerkschaftlich getragenes, von der Stadt kontrolliertes und vorrangig gefördertes gemeinnütziges Großunternehmen, das eine führende Rolle in der Hamburger Wohnungswirtschaft spielen und auch die Bedürfnisse der Minderbemittelten befriedigen konnte. Die „Gemeinnützige Kleinwohnungsbaugesellschaft Groß-Hamburg“ war eine gewerkschaftliche Gründung. Bezeichnend für ihren Status war, dass Staatsvertreter im Aufsichtsrat saßen und dass sie Staatsgrund in Erbpacht erhalten sollte. Eine beherrschende Stellung erlangte „Groß-Hamburg“ keineswegs. 1927/28 wurde sechs weiteren, nicht- gewerkschaftlichen, Gründungen der Status sogenannter Ehrenteit-Gesellschaften zugesprochen. Die „Freie Stadt“ zum Beispiel stand der mitregierenden konservativen DVP nahe, „Wichern“ kirchlichen Kreisen. Die sieben teilten nun das für „Ehrenteit-Gesellschaften“ reservierte Drittel der Fördermittel unter sich auf.
Aus der Not geboren: Der Kleinstwohnungsbau
1927 war offensichtlich, dass in Hamburg an dem dringlichsten Bedarf vorbeigebaut wurde. Vielfältige politische Vorschläge und Beratungen führten nicht zu einer grundlegenden Reform, auch nicht zur Konzentration aller Mittel und Kräfte auf den Kleinstwohnungsbau. Da die regierende Koalition in Hamburg sowohl höhere Subventionen als auch eine weitgehende Verstaatlichung ablehnte, blieben vor allem nur zwei Möglichkeiten, die Neubaumieten zu senken: Einsparungen bei Gestaltung und Ausstattung zum einen, Verkleinerung der Wohnungen zum andern. Beide Möglichkeiten wurden erprobt, mit unterschiedlicher Konsequenz und unterschiedlichem Erfolg. Einsparen hieß, dass das Äußere der Blocks karger und schmuckloser wurde und dass im Inneren auf Qualitätsstandards, die erst kürzlich festgesetzt worden waren, teilweise wieder verzichtet wurde. So wurden wieder mehr als zwei Wohnungen pro Hausgeschoss zugelassen, mit der Folge, dass die immer wieder geforderte Quer- oder Durchgangslüftung nicht mehr bei allen Wohnungen möglich war. Stellenweise wurde für die Fassaden auch statt Backstein der billigere Verputz gewählt (auf der Hofseite oft auch vorher schon). Die Verkleinerung der Wohnungen bedeutete zum Beispiel, dass vielköpfige Familien nun wieder auf engem Raum zusammengedrängt wurden. Unter Kleinstwohnungen wurden Wohnungen bis 45 Quadratmeter verstanden. Vielfach wurde versucht, mangelnden Komfort in den Wohnungen durch Gemeinschaftseinrichtungen in den Blocks zu ersetzen. Teils wurde auch die Flurfläche der Wohnungen aufs Äußerste verknappt, zum Beispiel in den Frankschen Laubenganghäusern. Noch 1928 hatten sich die Hamburger Baugenossenschaften und auch die Ehrenteit-Gesellschaften gegen eine entschiedene Priorität für den Kleinstwohnungsbau ausgesprochen. Aber schon in ihrer Planung für das Jahr 1929 beugten sich die Ehrenteit-Gesellschaften dem Zwang der Verhältnisse. Sie erstellten knapp 2.500 Kleinstwohnungen; das war der größte Teil ihrer knapp unter 3.000 liegenden Gesamtleistung dieses Jahres. Alle anderen Bauherren zusammen allerdings erstellten 1929 keine 100 Kleinstwohnungen. Hamburgs Oberbaudirektor Schumacher, der beredte und tatkräftige Anwalt vorbildlichen Bauens, sträubte sich weder gegen die Verkleinerung der Wohnungen noch gegen die anderen Sparmaßnahmen. Dem obersten Ziel – erschwinglichen Wohnraum zu schaffen – ordnete er manch anderes Wünschbares unter. So kam er trotz allem zu einer positiven Bewertung: „Dieser Kampf um den Quadratmeter ist eine der wichtigsten sozialen Aufgaben, die wir architektonisch zu lösen haben. Das Ziel ist nicht, eine Menschenschicht in Verhältnisse herabzudrücken, die unwürdig sind, sondern das Ziel ist im Gegenteil, diese Verhältnisse, so gut es geht, würdiger zu machen.“
Die vier in der Skizze nummerierten Blocks gehörten alle der „Kleinwohnungsbau Groß-Hamburg“. Block 1a/1b ist der im Titel gemeinte, von Schneider entworfene. An der Bauausführung waren Berg und Paasche beteiligt. Block 2 wurde von Schneider allein geplant, 4 von Berg und Paasche allein, Block 3 von Schneider und H. Hoger. Einzig Block 4 wurde in der Phase des verstärkten Kleinstwohnungsbaus errichtet, enthielt aber nur zum Teil Kleinstwohnungen (wenn überhaupt). 1 und 2 wurden vor 1929 gebaut, 3 teilweise. Die Wohnungen dieser drei Blocks waren im Durchschnitt größer als 50 Quadratmeter. Gleichwohl wohnten 1932 in Block 1a und 2 (die wir in eine größere Auswertung einbezogen haben) überwiegend Angehörige der „unteren Schichten“. Anders z. B. im „Funhofblock“ (Warmwasser, Zentralheizung) zwischen Funhofweg, Elligersweg und Lorichsstraße. Arbeiter waren allerdings auch in Block 1a und 2 nur mit 8-9 % vertreten. Auch hier waren die Wohnungen offenbar für ausgesprochen „Minderbemittelte“ zu teuer. Unsere Auswertung (siehe Graphik) stützt sich auf die Berufsangaben im Adressbuch. Die Ergebnisse der Reichstagswahl Juli 1932 spiegeln die unterschiedlichen Anteile sozialer Schichten wider. In den Stimmbezirken 458/9, zu denen die Blocks östlich von Habichts- und Schwalbenplatz gehorten, erreichte die SPD ca. 54 %, die KPD ca. 12,5 %, die NSDAP 22 %. Im Stimmbezirk 467, der vom Elligersweg bis zur Fuhlsbüttler Straße reichte und den Funhofweg einschloß, ergab sich in ganz anderes Bild: SPD 24%, KPD 6%, NSDAP 48,5%.
Der Adolf-von-Elm-Hof ist einer der herausragenden 20er-Jahre-Blocks in Barmbek (1927). Der Architekt: ein Protagonist des Neuen Bauens in Hamburg, Friedrich Ostermeyer. Man beachte die leicht gekrümmte Fuhlsbütteler-Straßenfront!
Die kubische Strenge der Nordansicht ist heute verwässert und konnte auch wegen der Hochstraße nicht mehr zur Geltung kommen.
Die Wohnungen hatten in der Mehrzahl 2 einhalb Zimmer (ca. 60 Quadratmeter). Im Zuschnitt drückte sich Sparwille aus: winzig die Loggien zum Hof. Bäder fehlten größtenteils. Ersatz bot das Wasch- und Badehaus im Hof. Gleichwohl leistete sich der Bauherr, die „Gemeinnützige Wohnungsfürsorge im Reichsbund deutscher Mieter“, den „Luxus“ künstlerischen Schmucks. Im Durchgang von der Fuhlsbütteler Straße zwei Reliefs zum Thema Verkehr. An der Ecke Dennerstraße / Mildestieg ist das Thema Arbeit dargestellt. In einer Pfeilerlaube vor dem kurzen nördlichen Querflügel stand der „Rattenfänger-Brunnen“. Allesamt Terrakotta-Werke von Richard Kuöhl, damals dem meistbeschäftigten Bildhauer der Stadt. Über den Kunstwert lässt sich streiten, über die dekorative Funktion für das Bauwerk kaum. Ein pathetisch-monumentaler Stil („Arbeit“) lag Kuöhl ebenso wie das gefällig-gemütvolle Genre (Brunnen). Anfang 1930 erwarb die „Produktion” den Block und benannte ihn nach einem ihrer beiden „Gründerväter“. Ab 1933 hatte die Gestapo ihn besonders im Blick, weil viele Sozialdemokraten darin wohnten. („Meyers Bierhaus“ war Treffpunkt der Reichsbannerabteilung 23 gewesen.)
Beim Wiederaufbau nach starken Kriegsschaden wurde die Pfeilerlaube zugemauert. Der Brunnen, erst vor der Bierhausterrasse platziert, wurde im Gustav-Borgner-Hof, Schwalbenstraße, „abgestellt“, als der Bau der Brücke begann. Bei den Umbauten 2001 wurde der Eindruck der Hoffronten stark verändert, trotz Denkmalschutzes, aber zum Vorteil der Bewohner.
Von Fritz Schumacher entworfen, wurde sie 1929/30 gebaut. Auf günstig geschnittenem Grundstück konnte Schumacher hier das Gestaltungs- und Nutzungskonzept seiner Schulbauten besonders klar verwirklichen. Der Schumacher der 20er Jahre zeigt sich als relativ moderner Architekt. Zum Vergleich: Seine Schule Genslerstraße (1913) ist in deutlich traditionellerem Stil gehalten. Die Plastiken vor den Eingängen (Fische und Vögel) stammen wie die Kraniche / Hufnerstraße von Ruwoldt.
Während des Kriegs wurden hier zeitweilig verwundete Soldaten und auch Kriegsgefangene untergebracht. – Nach den schweren Luftangriffen Juli / Aug. ’43 wurde der Unterricht in Barmbek eingestellt. Vorher schon waren ganze Klassen aus Hamburg in ländliche Gegenden (z. B. bis nach Ungarn) „verschickt“ worden. – Ab Ende ’44 / Anfang ’45 diente die Aula als Vorführraum für das „Scala“-Kino, dass sich bis ’43 und nach dem Wiederaufbau erneut in der „Fuhle“ befand. (Kinos s. Leinwand-Geflimmer.)
Gustav Bolland, Leiter der Jungenschule 1931-55, ist auch als Barmbeker Heimatforscher hervorgetreten. Seine Aufsätze* über die dörfliche Zeit sind von bleibendem Wert für die Barmbek-Geschichtsschreibung. 1931/32 unterrichtete Franz Bobzien (geb. 06) an dieser Schule. Er war in der linkssozialistischen SAP aktiv (wie der Junge Willy Brandt) und ist 1941 im KZ Sachsenhausen umgekommen. Genauer gesagt außerhalb des Lagers, beim Bombensuchen, d. h. in Ausführung eines „Himmelfahrtskommandos“. Die Überlebenden der Gruppe polnischer Häftlinge, mit denen er als Blockältester zusammen war, haben dankbar und liebevoll seiner gedacht.
Diese Wohnanlage mit den 2 langen Häuserzeilen sticht vom Gros der 20er-Jahre-Bauten augenfällig ab. Sie wurde von der Gemeinnützigen Kleinwohnungsbaugesellschaft Großhamburg 1936 errichtet, also in der NS-Zeit (wie auch die Zeile auf der andern Seite der Lorichsstraße). Zum Eindruck der Andersartigkeit tragen neben den fast obligatorischen Steildächern die Putzfassaden bei. In Barmbek-Nord sind wahrend der Zeit an gar nicht wenigen Stellen Etagenmietshäuser gebaut worden. Z. B. nahebei zwischen Wagenfeld- und Lorichsstraße und 2 große Komplexe beidseits der Lauensteinstraße sowie zwischen Dieselstraße und Oertzweg. Backsteinverkleidung wurde wie in den 20ern bevorzugt, so dass die andere Entstehungszeit oft nicht ins Auge springt. Beliebt waren Pergolen (wie diese hier).
1936-38 wurden wie in den Spitzenjahren der Republik 1926-30 in Hamburg jährlich 8.000 bis 10.000 Wohnungen produziert (bei weit höherem Bedarf). Die meisten (in der bis ’37 noch kleineren Stadt) in Barmbek, Dulsberg, Winterhude, Hamm. Das ideologische Leitbild des städtischen Siedlers wurde in solchen Stadtteilen beiseite gesetzt. Wie vor ’33 wurde der Wohnungsbau staatlich gefördert, aber anders als vor ’33 gab es in beachtlichem Umfang rein privat finanzierten Wohnungsbau. Die Förderung sollte zunächst Kinderreichen und wirtschaftlich Schwächeren zugute kommen. In den Häusern hier wohnten – nach den Berufsangaben zu urteilen – nicht Proletarier, doch kleine Leute: viele Angestellte. Dies mag damit zusammenhängen, dass der Bau zwar anscheinend nicht staatlich gefördert war, aber die Reichsversicherungsanstalt für Angestellte als Kreditgeber fungierte.
1921 wurde der Platz angelegt. Wer sich in Schumachers Planskizze von Barmbek-Nord den Hartzloh- und den Habichtsplatz anschaut, muss annehmen, dass beiden eine ähnliche Bestimmung zugedacht war: begrünte städtische Plätze zu sein. Seit den 60er Jahren hat sich der Raumanspruch des Autoverkehrs drastisch verändert und mit ihm der Charakter vieler Plätze. Den Habichtsplatz hat der Ring 2 verschlungen. Der Hartzlohplatz ist zur abgeschirmten grünen Insel geworden: eine Wohltat für manche, die noch den Verkehrslärm der „Fuhle“ im Ohr haben. Der Häuserkomplex an der Nordseite des Platzes, um den Funhofweg herum, zählte Ende der 20er Jahre zu den bestausgestatteten in Barmbek, mit entsprechend hohen Mieten. Architekt und Bauherr: Dr. Ing. Eugen Fink aus Württemberg. – Erneuerungen nach Bombenschäden sind an den Fassaden sichtbar. Die Polizeiwache hier, 1929/30 errichtet, ist von Fritz Schumacher entworfen – wie die meisten städtischen Bauten während seiner Amtszeit (bis ’33). Backsteinhaut und Flachdach ähneln sie den 20er-Jahre-Blocks an. H. Hipp nennt sie als Beispiel, dass „selbst kleine öffentliche Gebäude zu Brennpunkten besonderer gestalterischer Anstrengungen Schumachers wurden, um in den neuen Wohnquartieren Punkte besonderer Ausstrahlung zu schaffen.“ Im Zuge der Zusammenlegungen wurde die Wache 1983 geschlossen. Noch im selben Jahr zog der Verein „Bürgerhaus Hartzlohplatz e.V.“ ein. (Seit den 70er Jahren entfaltete sich mit städtischer Förderung die „Stadtteilkultur“ in Hamburg.) Nach einer Sanierung und kleineren Umbauten (bis ’87) war aus der Wache das Stadtteilkulturzentrum geworden, wie es heute mit seinem vielfältigen Angebot bekannt ist.
Die beiden langen Blocks zwischen Prechts- und Brüggemannsweg (zur Meister-Bertram-Straße hin) sind bezeichnend für die Übergangszeit nach dem Ersten Weltkrieg: Eine Zeit des Mangels; der „Lenker“ Schumacher bis ’23 in Köln; ’23 auch Höhepunkt der Inflation. Zwei Jahre später erst war der geförderte Wohnungsbau in Schwung gekommen. Die Fassaden hier tragen Putz, noch keinen Backstein. Ungeachtet spärlicher Verzierungen wirkten sie ausgesprochen einfach, ermangelten aber moderner Formklarheit (zu deren Merkmalen das Flachdach zählte). Fenstersprossen belebten den Eindruck etwas. Dass ein Ostermeyer (siehe von-Elm-Hof) einen ersten Fassadenentwurf gezeichnet hat, lässt ermessen, wie rasch sich damals der Stil wandelte. In den Bauakten finden sich Ankündigungen der Bauvorhaben ab 1919. Als Eigentümer beider Grundstücke tritt ein Herr Süchting auf, der in der Nähe weiteren Grundbesitz hatte. Namen anderer angehender Bauherren tauchen auf und verschwinden wieder. Ab 1921 werden Entwürfe eingereicht, die dann auch, teils sehr verzögert, ausgeführt werden. Der Prechtsweg-Block wurde hier von der Ecke aus 1922 begonnen und 1925 vollendet, von der Baugenossenschaft Barmbek („im Mieterverein Großhamburg v. 1890“). Die Baugenossenschaft Rübenkamp errichtete 1925/26 den Brüggemannsweg-Block. Im ersten war die Mehrzahl der Wohnungen an die 60 qm groß, im andern deutlich größer. Im Prechtsweg-Block wohnten vor ’33 – so Zeitzeugen – ganz überwiegend SPD-Anhänger. Die meisten hatten das „Echo“, die Parteizeitung, abonniert. Manche, wie Hein W. mit seiner Familie, hatten schwer unter dem NS-Regime zu leiden. Auch die Vereinigung der beiden Genossenschaften zur „Hamburg Nordost“ entsprach NS-Willen.
Die Häuser Nr. 417 bis 425 wurden 1912/13 fertiggestellt, ebenso um die Ecke herum die 2 Häuser an der ehemaligen Straße Sandbalken. Abgesehen von der Eckbebauung Hartzloh waren sie damals die einzigen Etagenmietshäuser im „hohen“ Norden Barmbeks. (Die Nummern 427/29 standen vorm Ersten Weltkrieg nur im Rohbau da.) Gleichwohl war die Stadt 1914 schon nahgerückt: Seit 1890 war die Fuhlsbüttler Straße gepflastert, zahlreiche kleine Häuser verteilten sich an ihr; seit 1895 fuhr die elektrische Straßenbahn nach Ohlsdorf, seit 1913 gab es den Vorortbahnhof Rübenkamp; im selben Jahr war das Krankenhaus eröffnet worden. – Auf preußischer Seite, nach Steilshoop hin, lag bei einem kleinen Gehölz das beliebte Ausflugslokal Forsthof. (Die Landesgrenze verlief ein Stück weit hier an der Bordsteinkante entlang.) Wir sehen hier selbstverständlich eine andere Architektur vor uns als bei den 20er-Jahre-Blocks, die das Bild Barmbek-Nords bestimmen. Und vom ländlichen Langen Jammer / Hebebrandstraße unterschieden sich diese Häuser hier als Typus sowohl wie auch durch ihre Bewohner. Die 2- bis 3-zimmrigen Wohnungen waren meist an klein- bis mittelbürgerliche Mieter vergeben. Auch einer der drei Bauherren, denen das Grundstück gehört hatte, B. Börjes, hatte sich in der Nr. 425 eine (vergrößerte) Wohnung genommen. Es geschah damals häufig, dass Bauherren ihre fertigen Häuser gleich verkauften (eher einer Geschäftspraxis folgend als der Not gehorchend). So auch hier. Bernhard Börjes, von dem seine Enkelin uns erzählt hat, verlor dann sein Vermögen 1923 infolge der Inflation.